Mahatma Gandhi

Von Gandhi, dem Mahatma, handelte ein nächtliches Gespräch unter Kommilitonen in Tübingen im Winter 1924/25, als Bonhoeffer dort studierte. 1926 bekam er „Zur Erinnerung an den [Kindergottesdienst-]Helferkreis“ in Berlin ein Buch „Zu des Meisters Füßen“ von 1923 geschenkt, das die Botschaft des 1889 geborenen indisch-christlichen Wandermönchs Sadhu Sundar Singh enthielt. Indiensehnsucht war in evangelischen Kreisen in den 1920er Jahren verbreitet. Die Großmutter Julie  Bonhoeffer regte ihren Enkel im Februar 1928 an, nach Indien zu reisen. Das nahm er sich dreimal vor, außer 1928 noch 1931 und 1934. – Auch in den USA wurden die Situation in Indien und das Vorgehen des erstaunlich anderen Politikers Gandhi aufmerksam verfolgt. Bonhoeffer referierte während seines Studiums am Union Theological Seminary Berichte der New York Times aus dem Februar und März 1931. Er schmiedete den Plan, der sich als undurchführbar erwies, aus den USA in Richtung Westen abzureisen, um Indien zu besuchen. – Nach Deutschland zurück, überlegte er in einem Brief vom 18.10.1931, ob das Evangelium jetzt Indiens „Volk gegeben ist, vielleicht gepredigt mit ganz anderen Worten und Taten“. Er hob am 4.2.1932 im Vortrag „Das Recht auf Selbstbehauptung“ Gandhis „gewaltige Tat“ hervor, die altindische Absage an Selbstdurchsetzung mit Gewalt „auf ein Volk in einer nationalen Frage auszudehnen“ und sie der Gemeinschaft zu gebieten – politische Willensbekundungen von Tausenden ohne Gewalttat, „bis die weißen Maschinengewehre auf sie gerichtet werden und Hunderte dahinmähen“. So hatten die britischen Kolonialherren am 13.4.1919 im „Blutbad von Amritzar“ gehandelt; erst im Laufe der Jahrzehnte sahen sie ein, dass sie mit Gewalt ihren Willen nicht durchsetzen würden. Wenn solche Dinge anderswo auf der Erde geschehen, dann, schrieb Bonhoeffer dem Schweizer Erwin Sutz am 17.5.1932, wäre es „einfach banausenhaft“, „nicht auch dorthin lernen zu gehen“. – Als ökumenischer Jugendsekretär traf Bonhoeffer in einer Arbeitstagung in Genf 19.-22.8.1932 Charles Freer Andrews (1871-1940). Der englische Quäker-Reverend, der für die indische Regierung tätig war, hatte 1913/14 Gandhi in Südafrika unterstützt und später dessen autobiographische Aufzeichnungen herausgegeben (deutsche Fassung: Mahatma Gandhi, Mein Leben, Leipzig 1930). An der ökumenischen Jugendkonferenz 25.-31.8.1932 in Gland am Genfer See nahm Andrews die ganze Zeit teil „zu unserer besonderen Freude“, wie Bonhoeffer in einem Zeitungsartikel betonte. Als er am 28.4.1934 an Sutz vom „Widerstehen bis aufs Blut“ schrieb, das „der eigentliche Kampf“ der Kirche in Deutschland werden müsste, klang der Weg Gandhis in Indien an: Satyagraha, der Wahrheit anhangen. Andrews riet Bonhoeffer in einem Brief aus Birmingham am 29.4.1934, das Quäker-Zentrum Woodbrooke aufzusuchen; dort würde er von Freunden, die auch der Bergpredigt zu folgen versuchten, von der „Friedens“-Bewegung in Indien hören. Am 22.5.1934 schrieb Bonhoeffer der Großmutter, er habe sich in der letzten Zeit „sehr intensiv“ mit Indien-Fragen beschäftigt und würde hoffentlich im Winter „gleich zu Gandhi gehen“. In London predigte er am 8.7.1934 zum Buße-Tun: „Ein Nichtchrist – aber man ist wohl versucht zu sagen, ein heidnischer Christ“, Gandhi, erzähle in seiner (von Andrews zusammengestellten) Lebensgeschichte von einem erschütternden Unrecht in einer Schulgemeinschaft, die er leitete; daraufhin habe er „mit Fasten und allerlei Entsagung lange Tage Buße getan“. Das sei ein „wunderlicher“ und doch „allein Gottes Weg“ zur Erneuerung. Und Bonhoeffers Rede bei der ökumenischen Tagung auf Fanø am 28.8.1934 über „Kirche und Völkerwelt“ mahnt: „Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand –“ den Angreifer betend und wehrlos empfinge. „Müssen wir uns von den Heiden im Osten beschämen lassen?“ – Am 22.10.1934 sandte Bischof Bell von Chichester ein Empfehlungsschreiben an Mahatma Gandhi für Bonhoeffer, der bei ihm in Indien das gemeinsame Leben und Ausbildungsmethoden studieren möchte. Am 1.11.1934 schrieb Gandhi: Ich habe Ihren Brief. Kommen Sie so schnell wie möglich, das Wetter ist gerade günstig kalt. Nehmen Sie am täglichen Leben im Ashram (in Ahmedabad) mit mir teil, falls ich aus dem Gefängnis heraus (und nicht drin, wie zuletzt im August 1933) und nicht auf Reisen bin. Wenn Sie mit dem einfachen vegetarischen Essen in einem meiner Ashrams auskommen, brauchen Sie für Kost und Logis nichts zu zahlen. – Aber in diesem Augenblick konnte Bonhoeffer unmöglich aus Europa fort. In Bonhoeffers Londoner Gemeinden stand der Anschluss an die Bekennende Kirche bevor, und er wurde als Leiter eines BK-Predigerseminars in Deutschland erwartet. So reiste er statt nach Indien nach Pommern und baute seinen eigenen Ashram auf. Dort, in Finkenwalde, erhielt Bonhoeffer einen Brief Karl Barths vom 14.10.1936: Seit Ende 1933 hätte er von ihm nur gewusst, „Sie beabsichtigten nach Indien zu gehen, um sich dort bei Gandhi oder einem anderen dortigen Gottesfreund irgend eine geistliche Technik anzueignen, von deren Anwendung im Westen Sie sich große Dinge versprächen!“; Bonhoeffers Lernwilligkeit hatte also Wogen geschlagen. Dachte er etwa, was wir hier hätten, reichte nicht, und es gäbe bei sonstigen Gottesfreunden mehr? Gerhard Jacobi in Berlin hatte Bonhoeffer vorgehalten: „Wir haben aus dem Neuen Testament und von den Reformatoren noch genug zu lernen.“ Julius Rieger allerdings, der in London in Bonhoeffers Indienplanung einbezogen war, wusste: Eine „Gestalt wie Gandhi, der von der Bergpredigt höher dachte als die meisten Christen“, zog Bonhoeffer „wie mit magnetischer Kraft an“. – Was Gandhi im Christentum und was Bonhoeffer in Gandhis Hinduismus ansprach und anzog, verhalf ihnen dazu, es in ihrer eigenen Tradition wiederzuerkennen.

Quelle:

Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 92005, 138, 298, 381, 471. Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, 4. Auflage 1969, 66, Nachlassverzeichnis 1987, 225. DBW 9, 153; DBW 10, 228, 401f, 620 u.a.

GANDHI, MOHANDAS KARAMCHAND (1869-1948), Mahatma („Mann von erhabenem Wesen“): wurde am 2.10.1869 in Porbandar an der Westküste der Halbinsel Kathiavar im indischen Bundesstaat Gujarat geboren. Vater und Großvater waren Minister kleiner Fürstentümer auf Kathiavar. Seine Familie, die der Kaufmannskaste angehörte, schätzte Ahimsa (Schonsamkeit) und Enthaltsamkeit. 13jährig wurde er mit einem gleichaltrigen Mädchen verheiratet; die Ehe war glücklich. Er studierte an der Universität Ahmedabad in Gujarat. 18jährig ging er zum Jurastudium nach London. In den vier Jahren dort begegnete er europäischen Schriften über den Hinduismus und der im -3. oder -2. Jahrhundert in Indien entstandenen Bhagavadgita, die er später autobiographisch  das  Buch zur Erkenntnis der Wahrheit nannte. Er wurde Rechtsanwalt in Porbandar; eine Handelsfirma schickte ihn, 24jährig, nach Südafrika als Rechtsbeistand für eine indische Firma. Natal, seit 1843 britische Kronkolonie, holte ab 1860 Inder herein zur Kontraktarbeit auf den Zuckerplantagen. Gandhi kämpfte in Südafrika mehr als zwanzig Jahre lang für die Aufhebung von Gesetzen, mit denen die Inder diskriminiert wurden. Er lernte die Bergpredigt kennen und erkannte in Jesu Lehre Wahrheit in der hinduistischen Geisteswelt wieder. Nach 1914 wirkte er in Indien ohne offizielle Stellung über dreißig Jahre äußerlich als Politiker, innerlich als Mann der Religion (so beschrieb er sich selbst). Bei Ahmedabad gründete er in der Art altindischen Dorflebens eine Siedlung, in der gemeinsam gelebt und gearbeitet wurde. Sein Auftreten in der Auseinandersetzung mit der Kolonialmacht – seit 1858 regierte die britische Krone in Indien – gewann viele für das zuvor fast vergessene urindische Glaubensgut. An Satya, die Wahrheit, sich klammern und ihr folgen, mit Ahimsa das Gute auch im Gegner achten und Gewalt notfalls durch Selbstpreisgabe vermeiden, davon durfte im Kampf um die politische wie moralische Selbständigkeit nicht abgewichen werden. Wenn es doch geschehen war, übte Gandhi Sühnung durch Fasten. Er passte sich selbst und seine Taten den Umständen schnell an. Zwanzig Mal wurde er nach Aktionen politischer Herausforderung gefangen gesetzt. Am 15.8.1947 war die Unabhängigkeit erreicht, aber Pakistan als moslemisch vom hinduistischen Indien getrennt. Gandhi erreichte durch fünftägiges Fasten, dass Boykott gegen Moslems in Indien und Beschlagnahme von Moscheen aufgehoben wurden. Dies und sein Bestreben, den Hinduismus vom Krebsschaden des Ausgrenzens der Kastenlosen (Unberührbaren) zu heilen, wurde ihm von Hinduisten verargt. Als Gandhi sich am 30.1.1948 in New Delhi an seinen Gebetsort begab, tötete ihn ein Attentäter.

Vita aus:

RGG 3. Auflage (II 1958). Jan Gonda: Der jüngere Hinduismus, 1963, 319-326. Recherchen Jørgen Glenthøj 1990. Kalliope, Verbundkatalog Nachlässe und Autographen.

Leben und Werk

Bonhoeffer heute

Forschung

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