Der Name Bonhoeffer war Wilhelm Niesel schon im Friedrich-Werderschen Gymnasium ein Begriff. Die Brüder Bonhoeffer besuchten diese Schule, seit die Familie 1912 nach Berlin gezogen war. Niesels Klassenlehrer schätzte Walter Bonhoeffer (1899-1918), der im Ersten Weltkrieg geblieben war, so sehr, dass er die Klasse einen Aufsatz über einen Ausspruch Walters schreiben ließ. Dietrich, drei Jahre jünger als Niesel, fiel ihm 1918 oder 1919 bei einer Ausfahrt des Gymnasial-Rudervereins auf; der Junge, der nur als Gast dabei war, brachte durch Ungeschicklichkeit beim Aussteigen ein Boot zum Umschlagen. – Bonhoeffers Dissertation »Sanctorum Communio« rezensierte Niesel in der Literaturbeilage der »Reformierten Kirchenzeitung« vom März 1931; die Arbeit lasse erkennen, was der Verfasser bei Barth gelernt habe. – Nach Bonhoeffers Zusage, ein »illegales« Predigerseminar der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union zu leiten, war Niesel, im Bruderrat für die Theologenausbildung zuständig, sein Vorgesetzter. Gemeinsam fanden sie schließlich eine Dauer-Unterkunft für die Predigtamtskandidaten in dem ehemaligen Pädagogium in Finkenwalde. Niesel prüfte persönlich, ob es dort nicht zu »geistlich« zuginge. Auf die Schließung Finkenwaldes kraft Erlass vom 29.8.1937 reagierte Niesel mit der Empfehlung, die »illegale« Ausbildung fortzusetzen in Form von »Sammelvikariaten«, die zum Beispiel die westdeutschen Reformierten schon früher durchgeführt hatten. – Im Juni 1939 berichtete Bethge Bonhoeffer, der (einen Monat lang) in den USA war, Niesel habe Bonhoeffers 1938 entstandene Schrift über das »Gemeinsame Leben« im Finkenwalder Bruderhaus »mit großem Interesse und wachsender Freude gelesen« (»Das will doch was heißen, nicht?«). – Bei der Sitzung des Bruderrats der Altpreußischen Union in Nowawes, außerhalb von Berlin wegen der mit Aufenthaltsverbot belegten Leitungsangehörigen, am 2. Juli 1940 hörte Niesel mit Befremden den hereingeschneiten Bonhoeffer äußern, »wir müssten unsere Einstellung zu Hitler ändern«, nachdem dessen Truppen am 14. Juni Paris kampflos besetzt und die französischen Streitkräfte am 17. Juni kapituliert hatten (etwa künftig positiver zu Hitler stehen?). Bonhoeffer habe sich aber »schnell wieder gefangen«. – Vom 10. August 1942 an arbeitete eine Kommission der Altpreußischen Bekenntnissynode, meist in Magdeburg, zur Predigt des Gesetzes (angesichts der Judendeportationen, die im Oktober 1941 eingesetzt hatten). In dieser Arbeitsgemeinschaft, schrieb Niesel in den 1960er Jahren, sei er »Bonhoeffer am nächsten gekommen“. Bonhoeffer hielt sein Referat zum primus usus legis in der Sitzung der Kommission in Magdeburg am 15.3.1943. Am 5.4.1943 wurde er ins Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Tegel verbracht. Bei den Verhören im Juni 1943 tauchte ein Brief Bonhoeffers an Hans von Dohnanyi auf, wohl im März 1942 geschrieben, mit dem Satz: »Es droht die Einziehung von Lic. Niesel, einem unserer allertüchtigsten und klarsten Leute.« Die Formulierung »Es droht die Einziehung« wurde zum Anlass der Anklage gegen Bonhoeffer am 21.9.1943 auf Wehrkraftzersetzung. Nicht das Amt Ausland/Abwehr über Dohnanyi, sondern die Hofkirche in Breslau reklamierte Niesel als »unabkömmlich«. Die Breslauer Bekenntnissynode der Altpreußischen Union gedachte Bonhoeffers namentlich in der Fürbitte am 17.10.1943. Das erfuhr Bonhoeffer in Tegel; es freute ihn sehr. – Bruderräte und Bekenntnissynoden bestanden (nur) in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union bis 1945.
Quelle:
ethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 2005/Wilhelm Niesel in: Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, herausgegeben von Wolf-Dieter Zimmermann, Gütersloh: Chr. Kaiser, 1969, 137-140/DBW 14, 15, 16
NIESEL, WILHELM (1903-1988): wurde am 7.1.1903 in Berlin geboren. Er war 1930 Hilfsprediger in Wittenberg/Brandenburg, 1930–1934 in Elberfeld (Reformierte Gemeinde) und Studieninspektor des Predigerseminars in Elberfeld; Juli bis November 1934 Mitarbeiter im Präsidium der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Bad Oeynhausen; 1934-1945 Mitglied des Bruderrates der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union, zuständig für die Theologenausbildung; 1935 Dozent für Systematische Theologie an der »illegalen« Kirchlichen Hochschule in Berlin. Wegen der Anweisung, das staatliche Verbot der Abkündigung von Fürbittenlisten nicht zu beachten, 14.6.1937 in Gestapo-Haft und danach weitere Male; auf die achte Verhaftung (3.2.-8.3.1940) folgte am 3.5.1940 Ausweisung aus Berlin und Reichsredeverbot; Hilfsprediger in Breslau; 1943–1946 Pfarrverweser in Reelkirchen/Lippe; 1946 Pfarrer in Schöller und bis 1968 Professor an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal. 1945-1972 Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland; 1946-1973 Präses und Moderator des Reformierten Bundes; 1964–1970 Präsident des Reformierten Weltbundes; 1947-1963 Mitglied des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen. Niesel starb am 13.3.1988 in Königstein im Taunus.
Vita aus:
Kalliope. Verbundkatalog Nachlässe und Autographen.Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 92005., DBW 14, 8