„Von guten Mächten“:
Erste Vertonung bereits zum Jahreswechsel 1946/47 durch Paul Winter
Bei Recherchen hat sich Ende 2024 herausgestellt, dass das Gedicht „Von guten Mächten“ von Dietrich Bonhoeffer bereits zum Jahreswechsel 1946/47 durch Paul Winter vertont wurde – 12 Jahre vor Otto Abel, dessen Melodie zur siebten Strophe entstand. Wie war es dazu gekommen und wer ist der Mann, von dem diese erste Melodie stammt?
Der Komponist Paul Winter war wegen seiner Wehrmachtsvergangenheit von 1945 bis Mitte 1947 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Dort hatte er den Text über ein Heft kennen gelernt: „Das Zeugnis eines Boten - Zum Gedächtnis von Dietrich Bonhoeffer“. Dieses Heft wurde im Rahmen der Seelsorge an deutsche Kriegsgefangene verteilt. Es ist die erste Würdigung seines Lebenszeugnisses – herausgegeben bezeichnenderweise vom Ökumenischen Rat der Kirchen, Jahre vor seiner offiziellen Gründung.
Es existieren mehrere Handschriften der Gedichtvertonung als Vortragslied, eine davon mit abschließendem Datum 17.1.47, für mich ein Hinweis darauf, dass diese Vertonung zum Jahreswechsel 1946/47 entstand. Paul Winter wurde Mitte 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, die Aufarbeitung seiner Wehrmachtsjahre war mit einer Entscheidung im Herbst desselben Jahres abgeschlossen.
Paul Winter war im Rahmen der Entnazifizierung als nicht belastet eingestuft worden. Er widmete sich wieder ganz der Musik und war bis zu seinem Tod im Jahr 1970 als Komponist tätig und wegen seines vielfältigen Engagements sehr geschätzt. Er wurde Ehrenbürger seiner Heimatstadt und bekam mehrere hohe Auszeichnungen.
Paul Winter hinterließ ein reiches musikalisches Erbe. Die Unterlagen überließ seine Ehefrau der Bayerischen Staatsbibliothek. Das Vermächtnis umfasst neben den zahlreichen Notenhandschriften auch Briefe und sonstige Unterlagen aus dem Nachlass.
Seine Kriegsjahre in der Wehrmacht holten ihn dennoch ein, wenn auch erst mehr als 50 Jahre nach seinem Tod. Zwei Lokalhistoriker seiner Heimatstadt hatten dunkle Flecken in seiner Vergangenheit gesucht und gefunden. Die Diskussionen um den Ehrenbürger begannen. In unserer Zeit ist es ja modern geworden, das Lebenswerk eines Menschen, seine Existenz und seinen Charakter, auf mögliches Fehlverhalten in zurückliegenden Zeiten zu reduzieren. Vergessen wird dabei gern, dass niemand ohne Schuld ist und wir alle auf Vergebung angewiesen sind. Hier nun betrifft es zusätzlich einen Mann, der sich nicht mehr selbst wehren kann dagegen. Umso mehr ein Grund, einmal genauer auf die Stationen in seinem Leben zu schauen. Dabei stütze ich mich auf die Angaben in Wikipedia, aber es gibt auch andere Lebensläufe und Quellen.
Paul Winter wurde 1894 als Sohn eines Rechtsanwaltes in Neuburg an der Donau geboren. Bereits in seinem vierten Lebensjahr erhielt er musikalischen Unterricht von seiner Mutter. Als Gymnasiast bekam er über den Lehrplan hinaus Unterricht in Chorgesang und Musiktheorie und erlernte mehrere Instrumente. In den letzten Jahren vor dem Abitur war er Organist der Studienkirche und begann mit dem Komponieren.
Nach dem Abitur im Jahr 1912 schlug Paul Winter auf Wunsch seines Vaters die Offizierslaufbahn ein und nahm auch am 1. Weltkrieg teil, wurde befördert und erhielt Auszeichnungen. Nach dem Krieg wurde er von der Reichswehr übernommen, seine militärische Laufbahn wurde immer wieder unterbrochen durch Jahre des Studiums vorwiegend im musikalischen Bereich.
Von Juli 1938 bis Mai 1943 war er Leiter der Zentralabteilung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Berlin. Er wurde wegen seiner Zuverlässigkeit geschätzt und mehrfach befördert. Seinem Einsatz als Befehlshaber an der Ostfront in der zweiten Jahreshälfte 1943 fühlte er sich jedoch nicht gewachsen und verbrachte den Rest des Krieges in der Führerreserve des Oberkommandos des Heeres ohne erneuten Einsatz.
Nicht auszuschließen ist, dass Paul Winter gerade wegen seiner musikalischen Qualitäten gefördert wurde, denn die Musik galt als wichtiger Bestandteil zur Aufrechterhaltung der Moral bei der kämpfenden Truppe. Als Beleg dafür kann die „Einleitungsfanfare zum Soldatenbekenntnis“ gelten, das Ende 1944 entstand und wöchentlich über Rundfunk ausgestrahlt werden sollte.
Auch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war er „musikalisch“ sehr aktiv. In Hersfeld und Allendorf entstanden zahlreiche neue Kompositionen – ich denke, es ist es kein Zufall, dass es sich dabei um biblische bzw. religiöse Themen handelt. Nach seiner Entlassung Mitte 1947 bis zu seinem Tod widmete er sich wieder ganz der Musik und erwarb sich hohes Ansehen in seinen Funktionen als Komponist und Musikwissenschaftler.
Weil er lange Zeit im Zentrum der Macht seinen Dienst versah, wurde er im letzten Jahr posthum der Mitschuld an den verübten Kriegsverbrechen bezichtigt, obwohl er nach dem Krieg entlastet und sein beruflicher Werdegang als Musiker und Komponist vielfach gewürdigt wurde. Aus dem verdienstvollen Ehrenbürger von einst wurde so in einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne ein Kriegsverbrecher, obwohl die Beweise dafür nicht erbracht wurden. Eine fehlende Bestrafung klärt zwar nicht eindeutig die Frage der Schuld – es ist allein die Vergebung, die uns frei machen kann vom Ballast der Vergangenheit.
Im Gedenken daran, dass sogar große Männer Gottes in der Bibel trotz ihrer Unvollkommenheit Freund Gottes (Abraham) oder Mann nach Gottes Herzen (David) genannt werden, möchte ich hier eine andere Perspektive aufzeigen:
Paul Winter schlug die Offizierslaufbahn ein, obwohl sein Herz der Musik gehörte, das zeigt sein ganzes Leben. Er war bereits viele Jahre im „ehrenwerten Soldatenstande“, bevor es zum Krieg gekommen war – ähnlich eines Berufssoldaten in der Bundeswehr. Er war als zuverlässiger Mitarbeiter allseits geschätzt. Wie die Allermeisten erlebte er wohl die Euphorie des Aufbruchs, die allgemeine Begeisterung über das Wiedererwachen Deutschlands zu Größe und Ruhm. Wie bei den Allermeisten setzte die Realität des begonnenen Krieges den Träumen Grenzen, Unsicherheit und Zweifel bis hin zur Angst auf diesem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Wer musste nicht an irgendeiner Stelle Kompromisse schließen, um diese Zeit zu überstehen? Wer blieb ohne Schuld, ohne seine Haltung mit dem Leben zu bezahlen?
Wir haben davon gehört, in welcher Maschinerie Paul Winter eines der Räder war. Das ist seine Schuld. Hätte er sich geweigert, er hätte den Krieg nicht überlebt – das ist letzten Endes der Vorwurf. Er habe sich unsicher gefühlt, habe öfters Rat gesucht, berichtet eine Zeitzeugin.
Sein Herz gehört der Musik, vor und nach dem Krieg. Zwischendurch missbraucht, geschunden durch die Anforderungen der Zeit, einer Zeit, in der jeder allein ist mit seiner Schuld vor Gott. Dietrich Bonhoeffer ist seinen Weg der kompromisslosen Nachfolge Jesu gegangen bis zum Schluss. Darf man denen einen Vorwurf machen, die nicht so konsequent waren? Wie hätten wir uns verhalten?
Dietrich Bonhoeffer, quasi Doppelagent in der Abwehr – ist Paul Winter ihm damals in Berlin begegnet? Es gab nur wenige, sie sich einander anvertrauten – selbst als das große Sterben längst begonnen hatte, standen die meisten allein. Versuchte nicht jeder sein Bestes, noch eine Zukunft zu haben? Wer will anklagen nach 80 Jahren, wo längst die blutige Realität dieser finsteren Jahre den nüchternen Zahlen in einem Geschichtsbuch gewichen ist?
1946 – und jetzt beginnt meine Geschichte mit Paul Winter – begegnet er Dietrich Bonhoeffer und seinem Lebenszeugnis in einem Heft, das er in der Kriegsgefangenschaft erhält. Wen würde es nicht betroffen machen, vom Schicksal dieses Mannes zu erfahren, dessen kompromisslose Jesus-Nachfolge ihm schließlich den Tod brachte? Wen würde es nicht betroffen machen zu erfahren, dass es solche Lichter gab in der allgemeinen Finsternis? Der, dessen Herz für die Musik schlägt, fasst ein Gedicht in Töne, das ihn bewegt: „Von guten Mächten“, hier als Neujahr 1945 überschrieben. Er schreibt seine Empfindungen auf als Melodie, weil es ihn betrifft und betroffen macht. Und er sieht all diese verlorenen Jahre aus einer anderen Perspektive – so denke ich jedenfalls. Die Gedanken von Dietrich Bonhoeffer, sein unermüdlicher Einsatz als Mahner, als Stimme des Glaubens in dieser Zeit der allgemeinen Verführung, lässt in ihm auch das zerschmelzen, was an persönlicher Rechtfertigung noch hinübergerettet werden konnte aus dieser Zeit der Zerrissenheit.
Ich bin überzeugt davon, dass das Heft über Dietrich Bonhoeffer in Paul Winter Anstoß zu innerem Zerbruch, zur Umkehr, Vergebung und neuem Leben geworden ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Melodie zum letzten großen Vermächtnis von Dietrich Bonhoeffer eine Frucht des bitteren Erkennens ist, das verborgen und verdrängt bereits lange zuvor vielleicht schon in Berlin begonnen hatte.
Kann man Paul Winter einen Vorwurf machen, dass er seine Karriere im Staatsdienst nicht in die Öffentlichkeit trägt – dass er als verdienter und gefeierter Komponist mit diesen Jahren nicht hausieren geht? Weil er abgeschlossen hat damit, Frieden gefunden hat und Vergebung? Sind gute Beurteilungen aus seiner Wehrmachtszeit schon deshalb negativ, weil sie von Kriegsverbrechern stammen? Zeigt nicht sein jahrzehntelanges Wirken für die Musik seinen wahren Charakter?
„Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“, sagt Jesus in anderem Zusammenhang. Sollte das nicht auch in diesem Fall Richtschnur sein?
Das, was wir der Nachwelt hinterlassen, sagt viel über uns aus, denn wir heben auf, was uns wichtig ist. Die Bayerische Staatsbibliothek besitzt im Vermächtnis von Paul Winter reichlich Material für ehrliche Recherchen. So könnte ein besseres Bild seines Wesens entstehen, als ein über publikumswirksame Aktivitäten von Lokalhistorikern erzeugtes. Aber das setzt echtes Interesse an der Wahrheit voraus und braucht Zeit und Engagement. Sein musikalisches Schaffen während der Kriegsgefangenschaft allein spricht für mich eine deutliche Sprache – die Melodie zum Gedicht „Von guten Mächten“ und ihre Einordnung ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.
Eckhard Becker