Diese Erinnerungen wurden 2024 vorgetragen bei der Eröffnung der evangelischen Buchhandlung in Sendai, die geleitet wird von Frau Miho Ookosi, einem ehemaligen Mitglied im „Bruderhaus“.
Nach der Schließung katholischer und evangelikaler Läden ist dies jetzt die einzige christliche im Kirchenbezirk der drei südlichen Tohoku-Präfekturen auf der Insel Honshu.
Wir alle müssen unseren lebenslangen Weg gehen, eine Wanderung mit vielerlei Begegnungen, eine Reise, auf der wundervolle Freunde und auch hervorragende Bücher uns verwandeln und für Neues in der Welt öffnen.
Wenn ich in meinem hohen Alter [1928 geboren] zurückblicke, muss ich immer wieder zutiefst dankbar dafür sein, dass mir auch nach meiner Emeritierung noch lange Zeit die Möglichkeit gegeben wurde, Bibelstudien und Lesekreise zu halten in unserem „Bruderhaus“, dem auf meinem Grundstück errichteten Nachbargebäude, gemeinsam mit meinen ehemaligen Studentinnen und Studenten. Ich frage mich, ob dies das Leben war, das Gott für mich und meine Frau Tuuko vorgesehen hat.
In diesem Zusammenhang berichte ich heute über meine Reise zur Begegnung mit Bonhoeffer. Gegenwärtig widme ich mich einer letzten Lebensaufgabe: der Neuübersetzung seines unvollendeten Lebenswerks Ethik, Dietrich Bonhoeffer Werke Band 6. [Die neue japanische Ausgabe ist im Januar 2025 im Shinkyō = Evangelischen Verlag in Tokyo erschienen.]
Bonhoeffer entstammte einer Honoratioren-Familie aus dem schwäbischen Pietismus Südwestdeutschlands. Er war Theologe, tief im Glauben Luthers verwurzelt, schloss sich aber dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Obrigkeit an. Er wurde im Frühjahr 1943 von der Geheimen Staatspolizei inhaftiert und zwei Jahre später, Anfang April 1945, im Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz nahe der tschechischen Grenze hingerichtet. Er war erst 39 Jahre alt.
Unter seinen nachgelassenen Schriften befindet sich das bekannte Gedicht „Wer bin ich?“. Es entstand während seiner Haft im Wehrmachtuntersuchungsgefängnis in Tegel, einem Vorort am Stadtrand von Berlin. Ich begegnete diesem Gedicht zuerst Ende der 1950er Jahre in dem Buch Widerstand und Ergebung, das ich in der Fremdsprachenabteilung der Kyobunkan-Buchhandlung in Tokyo erworben hatte. (Damals gab es keine japanische Übersetzung des Buches. Später, im Jahre 1964, erschien es auf Japanisch unter dem Titel Widerstand und Nachfolge. Die neueste überarbeitete Ausgabe heißt Gefängnisbriefe.)
Im Nachkriegsdeutschland wurde bereits 1949 zuerst Bonhoeffers Ethik herausgegeben von seinem Jünger und Freund Eberhard Bethge. Die Resonanz darauf blieb hinter den Erwartungen zurück. Aber zwei Jahre später, 1951, erregte Bethges Herausgabe der Gefängnisbriefe große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Damit gewann dann auch die Ethik Beachtung. Die von mir erworbene Ausgabe von Widerstand und Ergebung war schon die 7. Auflage, 1956 veröffentlicht. Wenig mehr als zehn Jahre nach Bonhoeffers Tod begegnete ich ihm buchstäblich als Zeugen der Zeitgeschichte. Seither sind über sechzig Jahre vergangen. Inzwischen habe ich sein Leben und Denken fortlaufend erkundet.
Aus dem Gedicht „Wer bin ich?“ geht hervor, dass Bonhoeffer überraschenderweise, trotz der harten Lebensumstände im Gefängnis, sowohl von seinen Mitgefangenen wie auch von den Bewachern als „gelassen und fest“ wahrgenommen wurde, als träte er aus seiner Zelle „wie ein Gutsherr aus seinem Schloss“. Ihm selber war jedoch bewusst, innerlich „unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig“ zu sein, „ringend nach Lebensatem“. Er gesteht die Qual und den Schmerz seiner Einsamkeit, abgeschottet von der Verschwörergruppe, isoliert von Familie, Freunden und der Verlobten. Er dichtet:
„Wer bin ich? Der oder jener? […] Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?“
Das Gedicht gibt der quälenden Frage nach seinem seelischen Zwiespalt eine wunderbare Antwort: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
„Dein bin ich“ mag auf den ersten Blick aussehen wie eine Selbstflucht, ein Ausweichen vor der Frage nach dem eigenen Ich. Aber bei ihm bedeutet es etwas anderes: das Verlassen des Horizonts argwöhnischer greller Selbstbeobachtung und -analyse auf eigene Faust, als hätte man sein Leben voll im Griff, und den Übergang zu tiefgründigem Vertrauen auf die Gnade Gottes – „Du kennst mich“ –, zum gänzlichen Ausliefern aller Dinge an Gott. – Das ist ein „Abenteuer des Glaubens“! – Bei uns könnte man Ähnliches in buddhistischer Redeweise andeuten mit „Jiko-hohge“ = Selbstaufgabe: das eigene Selbst wird abgelöst von seiner geistigen und körperlichen Verstrickung in die irdischen Dinge.
Was ich aus diesem Gedicht gelernt habe, ist Folgendes: Die drängende Frage „Wer bin ich?“ ist letztendlich verbunden mit der Frage nach Gott. Im „Urvertrauen“ darauf, unter dem Blick Gottes zu sein, der alles über mich kennt, darf unbesorgt einfältig gelebt werden. So erst lernt man, in jeder realen Lebenslage in aller Ruhe, ganz gelassen, nüchtern die Gegenwart wahrzunehmen und energisch vorwärts zu gehen.
Offen gesagt, bewegte mich noch tiefer der Abschnitt „Die letzten Tage“, den der Herausgeber Bethge den Gefängnisbriefen hinzugefügt hatte, und darin die Augenzeugen-Schilderung des Lagerarztes von Bonhoeffers Ende: In der Nacht vor seiner Hinrichtung habe Bonhoeffer in seiner Vorbereitungszelle gekniet und inbrünstig zu Gott gebetet. In Bethges umfassender Bonhoeffer-Biographie wird dieser Bericht noch ausführlicher zitiert: „Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebetes dieses außerordentlich sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen. Der Tod erfolgte nach wenigen Sekunden. Ich habe in meiner fast 50jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.“
[Diese Aussage enthielt krasse Lügen. Ehemalige Mitgefangene haben bezeugt, dass es in Flossenbürg keinen Galgen mit Treppe gab. Stattdessen wurde grausam langsam getötet am Strang am Eisenhaken, wie Alfred Hrdlickas es im Wandgemälde „Totentanz von Plötzensee“ dargestellt hat. Tatsächlich zog sich die Hinrichtung in Flossenbürg von sechs Personen nacheinander, darunter Admiral Canaris, General Oster und Bonhoeffer, über mehr als sechs Stunden hin, von der Morgendämmerung bis fast zum Mittag. Der Arzt Hermann Fischer war damals im KZ tätig als Oberstleutnant der SS und trug die Uniform mit dem Totenkopf-Emblem. Hat Fischer nach dem Krieg, inmitten der „Entnazifizierungspolitik“ der alliierten Besatzungsmächte, sich zu schützen versucht, indem er eine besonders respektvolle Schilderung eines seiner Opfer verfasste, um als warmherziger Mensch dazustehen? Trotz alledem scheint Fischers „Heiligenbildnis“ dem zu entsprechen, was wir von Bonhoeffer in seinen letzten Lebensmomenten erwarten. Zeigt es wirklich, was Bonhoeffer im Brief am 21. Juli 1944 an Bethge anspricht: Mit-Wachen in Gethsemane, Marter sich mit-auferlegen lassen?]
Von 1960 an verbrachte ich als Alexander-von-Humboldt-Stipendiat zwei Jahre in Deutschland. Während dieses Aufenthalts besuchte ich verschiedene historische Stätten des Kirchenkampfs, zum Beispiel die Kirche in Barmen-Gemarke, wo 1934 die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet wurde, und die Kirche im Dorf Ranstadt in der Nähe von Frankfurt am Main, die als Vorlage diente für Otto Salomons Buch Das Dorf auf dem Berge von 1946, japanisch als Shinkyō Taschenbuch Die Kirche im Sturm.
[Otto Salomons Dokumentarnovelle Das Dorf auf dem Berge; Der erste Entwurf des Buches wurde Anfang der 1940er Jahre fertiggestellt. Sein Autor erinnert sich, dass Bonhoeffer, der in geheimer Mission für die Widerstandsgruppe im Amt Ausland/Abwehr in die Schweiz gereist war, das Manuskript während seines Aufenthalts im Exilhaus Salomons las und es als „ein wichtiges Zeugnis des inneren Deutschlands“ lobte. Otto Salomon hatte 1937 als Leiter des Chr. Kaiser Verlags in München den Druck von Bonhoeffers Buch Nachfolge durchgesetzt, das er als „bedeutendstes Werk seit Barths Römerbrief“ würdigte. Als ich im Herbst 1961 das Dorf besuchte, fand ich, dass es in offenem Flachland liegt und die Dorfbewohner keine Ahnung von der Publikation hatten. Inzwischen bin ich dreimal dort gewesen, später zusammen mit meinen Studenten. Beim letzten Mal, 2002, musste ich anstelle des Pfarrers den jungen Gemeindegliedern erzählen vom damaligen Kirchenkampf dort. Sie wussten nichts!]
Schon vor meiner Abreise aus Japan hatte ich geplant, unbedingt Flossenbürg zu besuchen. Nach dem ersten Sommersemester an der Universität Tübingen erreichte ich schließlich im Auto meines Freundes diesen abgelegenen Ort – kurz vor der Abenddämmerung. Dort erfuhr ich, dass ich der erste Besucher aus Japan war.
Am nächsten Morgen sah ich Überreste der grausamen Einrichtungen des nationalsozialistischen Regimes: Wachttürme, Stacheldrahtverhaue, die Ruinen des Krematoriums. Diese Reise konfrontierte mich zum ersten Mal unvergesslich mit solchen Spuren der Zeitgeschichte.
An der Wand der Dorfkirche in Flossenbürg war eine schlichte Gedenktafel angebracht: „Dietrich Bonhoeffer | Ein Zeuge Jesu Christi unter seinen Brüdern | Geboren am 4. Februar 1906 in Breslau | Gestorben am 9. April 1945 in Flossenbürg“. Der Ortspfarrer erzählte, bei der Einweihungszeremonie hätte der Landesbischof absichtlich gefehlt. Später fand ich heraus, dass die deutsche Kirchenleitung damals sehr zurückhaltend war, Bonhoeffer als „Märtyrer“ anzusehen, während Paul Schneider als echter Glaubensmärtyrer verehrt wurde – er hatte sich konsequent gegen die nationalsozialistische Religionspolitik gestellt und wurde im Konzentrationslager Buchenwald umgebracht.
[Paul Schneider: Im Sommer 1983 besuchte ich die Kirche in Dickenschied, einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt am Main, wo Paul Schneider als Pfarrer tätig war, und traf dort Dr. Hans Vorster, den Schriftleiter der vierteljährlich erscheinenden „Ökumenischen Rundschau“. An diese Begegnung anknüpfend veröffentlichte ich später meinen Artikel „Bonhoeffer und Japan“ in dieser Zeitschrift. Im Sommer 1992 besuchte ich erneut, nun mit meinen Studenten aus Sendai, das Schneider-Martyrium-Gedenktreffen in diesem Dorf. Man bat mich um eine „Vorrede“ bei der Eröffnungsveranstaltung. Ich dachte, gemeint sei ein kurzer Gruß aus Japan. Aber das war weit gefehlt. Ich musste eine spontane Rede halten, etwa eine halbe Stunde lang, und kam stark ins Schwitzen. Frau Vorster ist die älteste Tochter Pfarrer Schneiders; das Ehepaar Vorster arbeitet seit langem zusammen daran, die Botschaft vom Glaubenskampf ihres Vaters in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu verbreiten. Bundespräsident Johannes Rau verlieh ihr für ihr langjähriges soziales Engagement das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik.]
Im Gegensatz zu Schneider galt Bonhoeffer vielen noch immer als jemand, der sich an einer Verschwörung gegen das Staatsoberhaupt beteiligt hatte und damit nach damaligem Recht Hochverrat beging.
Heutzutage hat sich das grundlegend geändert. In ganz Deutschland sind viele Kirchen und Schulen nach Dietrich Bonhoeffer benannt, und in Großstädten tragen Plätze, Straßen und sogar Flussufer seinen Namen. Bonhoeffers berühmtes Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist mittlerweile in die Gesangbücher vieler Länder – auch in Japan – aufgenommen worden. In Deutschland wird es mit verschiedenen Melodien als Lieblingslied sogar in Schulen gelehrt.
Es gibt auch zahlreiche Statuen zu Bonhoeffers Gedenken. Die bemerkenswerteste ist wohl die in einer der zehn Nischen für die „Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ an der Westfassade der Westminster Abbey in London (seit 1998). Dort steht, neben Pater Kolbe, Pastor Martin Luther King und anderen, Bonhoeffer in einem langen Gewand mit einer Bibel in der Hand. Er mutet an wie ein „evangelischer Heiliger“ (Wolfgang Huber).
Natürlich unterscheidet sich dies von der mittelalterlichen „Heiligenverehrung“ – also der traditionellen Vorstellung, dass die Verdienste von Heiligen als „Wohltat“ der Erlösung anderer Gläubiger zugutekommen. Gerade nach der reformatorischen Rechtfertigungslehre geschieht Erlösung allein durch „Gottes Gnade“. Dennoch ist unbestreitbar, dass Bonhoeffers Glaube und Leben als „Glaubensvorbild“ und „Zeuge“ tief beeindruckend weitergewirkt haben.
Bislang hat weder Bonhoeffers Familie noch einer seiner Freunde jemals versucht, ihn als „Gerechten“, „Märtyrer“ oder gar als „Heiligen“ zu ehren. Tatsächlich lehnt Bonhoeffer selber Bemühungen, ein „Heiliger“ zu werden ausdrücklich ab. Dies steht im Brief an Bethge vom 21. Juli 1944:
„Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, […] dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metánoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ.“
Im selben Brief steht nochmals: „… nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus – im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer – Mensch war.“ Freilich ist das, was Bonhoeffer meint, keinesfalls „die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“, der Zuchtlosen, also das ‚oberflächliche‘ Zurechtkommen in der Welt. Er meint ein Mensch-Sein, das sich nicht über das ‚Jedermann‘-Dasein emporhebt, jedoch sich einer anderen wirklichen ‚Weltlichkeit‘ öffnet: „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist“. Im Leben „in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten“ erfuhr Bonhoeffer, „dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt“.
Wie sah die alltägliche Lebensweise des Glaubens aus, die sich Bonhoeffers Jüngern zeigte? Lassen Sie uns einen Blick auf einige Stellen seiner Schrift Gemeinsames Leben werfen.
Es ist nicht möglich, den gesamten Inhalt der Schrift im Detail zu erläutern. Aber um sie recht zu verstehen, muss man unbedingt das erste Kapitel, „Gemeinschaft“, gründlich nach-denken. Hier legt Bonhoeffer eindringlich dar, was „Gemeinschaft“ ausmacht, wenn man sie in einer christologischen Glaubensperspektive betrachtet, also im Hinblick auf Gottes Wort an die Menschen, den ‚Logos‘ Jesus Christus. Gleich zu Beginn stellt Bonhoeffer klar, dass „christliche Gemeinschaft“ nach reformatorischem Glauben „allein durch Gottes Gnade“ entsteht, nicht aus eigenen Wünschen, Forderungen oder Selbstrechtfertigungen. In theologischer Begrifflichkeit ausgedrückt: Unsere Gerechtigkeit ist eine „fremde Gerechtigkeit“, die uns „von außen her (extra nos)“ zukommt. Sie wird allein von Gott gegeben und bewahrt.
Es ist erschütternd, dass Bonhoeffer noch einen Schritt weiter geht und feststellt, der Christ sei, um in der Wahrheit des Evangeliums zu bleiben, auf den Mit-Christen angewiesen. Das ist eine wirklich kühne bahnbrechende Beobachtung. „Gott hat gewollt, dass wir sein lebendiges Wort suchen und finden sollen im Zeugnis des Bruders, in Menschenmund. Darum braucht der Christ den [anderen] Christen, der ihm Gottes Wort sagt“. Erst indem Christen einander die Botschaft der Erlösung – das Evangelium – vermitteln, begegnen sie einander wirklich. Daraus entsteht das Leben in der „christlichen Gemeinschaft“.
Die Beziehung in dieser „christlichen Gemeinschaft“ ist „eine pneumatische und nicht eine psychische Wirklichkeit“.
In psychischer [= seelischer, in Menschenseelen gründender] Gemeinschaft wird im Allgemeinen nach direktem Kontakt und vollständiger Verschmelzung gestrebt. Oft wird angenommen, dass in einer vollkommenen Gemeinschaft die Unterschiede zwischen Menschen verschwinden. Dennoch ist eine solche Gemeinschaft laut Bonhoeffer bloß psychisch real und kann niemals zu einer wahrhaft christlichen pneumatischen Gemeinschaft werden. „In der [pneumatischen =] geistlichen Gemeinschaft regiert allein das Wort Gottes, in der seelischen Gemeinschaft regiert neben dem Wort noch der mit besonderen Kräften, Erfahrungen, suggestiv-magischen Anlagen ausgestattete Mensch.“
Auch in der Seelengemeinschaft zwischen Menschen kann eine „seelische Bekehrung“ stattfinden, die äußerlich nicht von „echter“, wirklich wahrer [gläubiger] Bekehrung zu unterscheiden ist. Was tatsächlich geschieht, ist, dass ein Mensch unmittelbar auf einen anderen Menschen einwirkt und ihn in seinen Bann zieht. „Es ist zur Überwältigung des Schwachen durch den Starken gekommen, der Widerstand des Schwächeren ist zusammengebrochen unter dem Eindruck der Person des Andern“, unter dem mächtigen Einfluss einer charismatisch wirkenden Figur. (Vielleicht Anspielung auf den damaligen pseudoreligiösen Hitler-Kult?)
In der japanischen Gesellschaft war es von alters her üblich, dass einflussreiche, ‚Boss‘-hafte Personen viele Menschen in einer Oyabun-Kobun-Beziehung, einer Anhängerschaft, unter ihre Fittiche nahmen. Wenn man sich einer solchen Person unterordnete, konnte man ein sorgenfreies Leben führen. In heutigen Kult-Religionen gibt es zwar auch Bekehrte, aber ihnen ist in Wirklichkeit eine unechte pseudoreligiöse Bekehrung widerfahren als Ergebnis der Gehirnwäsche durch die Methoden der Kult-Bewegung. Die Bekehrten unterlagen nur dem magischen Charisma eines Gurus. Es kommt zu keinem Glaubensbekenntnis in eigener Person als unabhängiges Individuum.
Ebenso wie Seelenbekehrungen kommen auch Verhaltensweisen zustande, die man als psychische Nächstenliebe bezeichnen könnte. Diese äußert sich in durchaus leidenschaftlicher Hingabe und Opferbereitschaft, etwa im Verschenken des gesamten Privateigentums an einen Pseudo-Religionsstifter. Der Sinn darin ist jedoch lediglich das Trachten nach persönlicher Begünstigung – etwa: die Seele, die eigene und die der Vorfahren, möge nicht in die Hölle kommen –; konkrete Formen sind Spenden, diverse Dienstleistungen oder eifrige Teilnahme an Wahlkampagnen für bestimmte [Religiosität ausnutzende] Parteien. ‚Nächstenliebende‘ solcher Art können, wenn sie auf „jemand Anderen“ treffen, auf jemanden mit abweichender Meinung, ihn nicht akzeptieren. Vielmehr schlägt das Verhalten leicht um in Verachtung, Verleumdung und Hass und zuweilen sogar in heftige Gewaltanwendung.
Nach Bonhoeffer soll man als Mensch den anderen Menschen nicht fesseln, zwingen oder beherrschen wollen, sondern „die Grenze des Anderen achten“, Platz lassen zwischen „Ich“ und „Du“. Seelische Liebe begehrt; „geistliche Liebe schafft Freiheit der Brüder unter dem Wort“, freien Raum, in dem der Andere Jesus Christus begegnen kann. Ich halte diesen Standpunkt für äußerst wichtig und unbedingt nötig. Man muss einen „Anderen“, dem man begegnet, als den „Anderen“ anerkennen und ihn nehmen, wie er so ist. Man soll ihn nicht zu einem Verehrer, geschweige denn zu einem Anhänger oder gar zum Hörigen machen. Er bleibt durchaus er selbst.
Als er selbst kann der Mensch Christus begegnen und durch den Anspruch der „Sache“ (Bonhoeffers Wortwahl) des Evangeliums erschüttert werden zu wahrhafter Umkehr. Damit das Evangelium dem Menschen selbst begegnen kann, darf der Mensch nicht durch ‚menschliche Beimischungen‘ eines charismatischen Führers oder begnadeten Lehrers verführt werden, sei es durch großartige Beredsamkeit oder gar betrügerisches ‚Luftschweben (!) des Religionsstifters‘ [vorgebliche Elevationen gegen die Schwerkraft als Zeichen der Überlegenheit über das menschlich Normale].
Laut der Erinnerung von Teilnehmern an Kursen im Finkenwalder Predigerseminar hatte Bonhoeffers Stimme „keinen faszinierenden, läuternden Ton“. Er war nicht beredt, ihm gingen nicht aus dem Stegreif mühelos brillante Aussprüche über die Lippen. Doch in seiner Art zu sprechen vernahm man eine ernste Redlichkeit. Aus eigener Erfahrung – ich habe jahrelang in unseren Hausandachten aus Bonhoeffers Gesammelte Predigten (Shinkyō Verlag, 3 Bände) laut vorgelesen – erinnere ich mich: Bei solchen Gelegenheiten überkam mich manchmal das Gefühl, das Payne Best so ausgedrückt hat: „Er war einer der sehr wenigen Menschen, die ich jemals getroffen habe, dem sein Gott wirklich und sogar ihm nahe war.“
Offiziell war Bonhoeffer der Direktor dieses Predigerseminars. Aber er selbst verbot streng, ihn mit dem Titel „Herr Direktor“ anzureden. Es wird erzählt: Wenn ein neuer Predigtamtskandidat eintraf und fragte „Wo ist der Herr Direktor?“, sei er von einem älteren Seminaristen belehrt worden, dass man das nicht sagen, sondern ihn stattdessen „Bruder Bonhoeffer“ nennen solle. Zu dieser Zeit wurde das Wort „Bruder“ gern verwendet, um die Gemeinschaft der Finkenwalder auszuzeichnen.
Lassen Sie uns im Buch Gemeinsames Leben noch den Abschnitt über die Zeit der Arbeit betrachten. „Die Arbeit stellt den Menschen in die Welt der Dinge. Sie fordert von ihm das Werk. Aus der Welt der brüderlichen Begegnung tritt der Christ hinaus in die Welt der unpersönlichen Dinge, des ‚Es‘, und diese neue Begegnung befreit ihn zur Sachlichkeit“.
Nach Bonhoeffer befreit diese neue Begegnung den Christen dazu, die Dinge ‚sachlich‘ (objektiv, sachgemäß) zu betrachten. „… die Welt des Es ist nur ein Werkzeug in der Hand Gottes zur Reinigung der Christen von aller Selbstbezogenheit und Ichsucht. Das Werk der Welt kann ja nur dort vollbracht werden, wo der Mensch sich selbst vergisst, wo er sich an die Sache, an die Wirklichkeit, an die Aufgabe, an das Es verliert. In der Arbeit lernt der Christ, sich von der Sache begrenzen zu lassen“. Die „dauernde Auseinandersetzung mit dem Es“, die „Härte und Strenge der Arbeit“ fordert, sich ganz in die Sache, in das Objekt zu vertiefen. Das bedeutet Selbstverleugnung. Erst im Ausüben der Selbstverleugnung geschieht der „Durchbruch durch das harte Es zum gnädigen Du“ Gottes, zu gläubiger Frömmigkeit, zu allein auf Gott hin ausgerichtetem täglichen Leben.
Wenn dem so ist, kann die Welt des Es nicht von Gott getrennt sein. Um wirklich tief im Glauben in Ehrfurcht vor Gott zu leben, müssen wir aufhören, Arbeit bloß nebenbei zu treiben und ständig von anderen Dingen zu träumen. Dadurch verlieren wir unsere Konzentrationsfähigkeit. Indem wir uns vorbehaltlos der Welt des Es widmen, treten wir in Wirklichkeit vor Gott.
Den Text Gemeinsames Leben, im Original etwa 100 Seiten lang, schrieb Bonhoeffer nach Bethges Erinnerung zwischen September und Oktober 1938 in nur vier Wochen nieder, erstaunlich schnell. Zudem gab es „genussreiche Unterbrechungen: täglich eine Stunde auf dem Tennisplatz, gelegentlich eine Fahrt zu den Kassel Musiktagen“. Veröffentlicht wurde er in erster bis dritter Auflage 1939 im Chr. Kaiser Verlag München als Heft 61 der Schriftenreihe „Theologische Existenz heute“. Weil Bonhoeffer „auf akademische Sprache und wissenschaftliche Argumentationsform“ verzichtet hat, spricht die Schrift „auch existentiell-personal“ an, befinden die Herausgeber des Bandes 5 der Dietrich Bonhoeffer Werke. Vielleicht deshalb ist sie eines der am meisten gelesenen Werke Bonhoeffers.
Die Entstehung der Schrift hängt auch zusammen mit der Familie von Bonhoeffers Zwillingsschwester Sabine und deren Ehemann Gerhard Leibholz – damals Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Leibholz war getaufter Christ, entstammte aber einer jüdischen Familie. Um verschärften Reisebeschränkungen gegen ‚Nichtarier‘ noch zu entkommen, musste die ganze Familie am 8. September 1938 Deutschland verlassen, um nach England emigrieren zu können, was Dietrich Bonhoeffer vermittelt hatte. Nach der Verabschiedung der Leibholzens arbeitete Bonhoeffer in ihrem nun leeren Haus am Schreibtisch des Schwagers. Gemeinsames Leben entstand unter wirklich dramatischen Umständen in einer zeitgeschichtlichen Krise. Im folgenden September brach der Zweite Weltkrieg aus.
Ich traf Eberhard Bethge zum ersten Mal während meiner Studienreise in Europa 1983. In seinem Haus oberhalb von Bonn bekam ich viele Fotos aus Bonhoeffers Leben und handschriftliche Texte zu sehen – darunter auch das mit Tinte geschriebene Gedicht „Wer bin ich?“. Dank Bethges Vermittlung konnte ich die Familie Leibholz in Göttingen besuchen. Als wahrscheinlich der erste Bonhoefferforscher aus Japan wurde ich herzlich willkommen geheißen.
Professor Leibholz kehrte 1947 zurück an die Universität Göttingen. Von 1951 bis 1971 war er Richter am westdeutschen Bundesverfassungsgericht. Zum Zeitpunkt meines Besuchs war er bereits verstorben; Frau Sabine lebte mit ihren beiden Töchtern zusammen. Sie bewohnten nicht dasselbe Haus wie vor dem Krieg, sondern ein ähnlich gebautes Nachbarhaus. Mit eingeholter Genehmigung durfte ich jedoch dasjenige Zimmer betreten und besichtigen, in dem Gemeinsames Leben tatsächlich geschrieben wurde. Es war ein angenehmer heller Raum, durch dessen große Fenster reichlich Sonnenlicht einfiel.
Im Hause Leibholz war man sehr daran interessiert, wie japanische Christen Bonhoeffer lesen und verstehen. Ich antwortete, dass ich ihn einerseits als unverzichtbare ‚gewissenhafte‘ Persönlichkeit des Widerstands gegen den Nationalsozialismus betrachte, andererseits aber auch als Autor der vertrauenswürdigsten Bücher, die mich eine fromme Lebensweise gelehrt haben, und dass ich ihn in beiderlei Hinsicht als Glaubensvorbild respektiere. Gemeinsames Leben warfür meine langjährige Arbeit der Studentenmission eine unentbehrliche Hilfe.
Lasst uns zum Ausgangspunkt der Geschichte zurückkehren. In Deutschland, wo Hitler die Kriegsvorbereitungen rasch vorantrieb, verschärfte sich die Unterdrückung der Kirche, und im Kirchenkampf seit der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 traten Anzeichen von Schwäche und Scheitern zutage. Im Herbst 1937 wurden die Predigerseminare der Bekennenden Kirche von der Gestapo geschlossen, und im Sommer 1938 gaben viele Pfarrer dem Drängen nach, einen Treueid auf Hitler zu leisten. Bonhoeffer, auf dem linken Flügel der Bekennenden Kirche, widersetzte sich dieser Tendenz entschieden.
Während Bonhoeffers Buch Nachfolge, 1937 veröffentlicht, auf die Grundlegung für den Glaubensgehorsam verwies, legte Gemeinsames Leben zwei Jahre später einen Versuch der praktischen Umsetzung dar. Beide Werke trugen dazu bei, dass viele junge Pfarrer sich dem nationalsozialistischen Anpassungsdruck widersetzten und, in Kirchen in ganz Deutschland entsandt, Widerstandszentren bildeten. Bonhoeffers Veröffentlichungen wirkten sozusagen als äußerst zeitgemäße Anleitungen zu „zivilem Ungehorsam“.
Bonhoeffer selbst ging über den Ungehorsam im Alltag noch hinaus: Er beteiligte sich ab 1940 an der Verschwörung, die aktiv gegen die irdische Hoheit über Gehorsam vorgehen wollte. Aus dieser Zeit stammen viele der Entwürfe, die in der Ethik, dem Band 6 der Dietrich Bonhoeffer Werke, zusammengestellt wurden. Eine der wertvollsten Quellen, die Bonhoeffer für diese Arbeiten nutzte, war Friedrich Meineckes Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte von 1924. In Bethges Haus, das ich 1983 besuchte, standen auf einem speziellen Regal Bücher aus Bonhoeffers Nachlass-Bibliothek. Als ich Meineckes Idee der Staatsräson herauszog und die Seiten durchblätterte, entdeckte ich hier und da Bleistiftnotizen, was mich vor Aufregung zittern ließ. Meinecke geht zum Beispiel ein auf Niccolo Machiavellis Der Fürst (II Principe, 1513) und darin auf die berühmte Passage, dass „der Fürst, der nicht untergehen wolle, Fuchs sein müsse mit den Füchsen“. Er kommentiert diesen Satz mit der bemerkenswerten Bewertung, dieses Müssen, diese „necessitá“, „war der einzige ethische Bestandteil Machiavellis, der nachwirkte – eine höhere Rechtfertigung für unsittliche Politik vor dem sittlichen Gewissen“. Im Meinecke-Band steht auf dieser Seite Bonhoeffers Bleistiftnotiz: „Zynismus und Verantwortung“.
In dieser kurzen Bemerkung zeigt sich zusammenfassend Bonhoeffers scharfsinnige „politische Einsicht“, die er bei seinem Entwurf einer Logik des aktiven Vorgehens gegen den Nationalsozialismus entwickelte. In zweifacher Hinsicht sind für solches Handeln ein klares Urteil und eine klare Entschlossenheit erforderlich, die mit der politischen Notwendigkeit, der „necessitá“, einhergehen müssen. Einerseits der Aspekt „Zynismus“: Es besteht die Gefahr, dass machiavellistische „Befreiung von der Ethik“ in völlige ethische Gleichgültigkeit verfällt. Andererseits, trotz dieser Mahnung zur Vorsicht, der Aspekt „Verantwortung“: Das politisch handelnde Subjekt muss in Grenzsituationen wagen, auf die von ihm getroffene Entscheidung zu setzen, ohne ‚letzte‘ Sicherheit über deren Sachgemäßheit oder Auswirkung des Handelns zu besitzen. Es ist deutlich zu erkennen, wie scharf Bonhoeffer die Spannung wahrnahm, in der Handeln zu wagen ist angesichts der harten Realität.
Seine Teilnahme an der Verschwörung, selbst wenn sie bedeutete, geltendes Recht zu brechen, um das nationalsozialistische Regime zu stürzen, beruhte gerade auf der Überzeugung, dass verantwortliches Handeln geboten sei, im Notfall sogar gegen ethische Erkenntnis. Im Tegeler Gefängnis entstand ein Text-Fragment „Was heißt die Wahrheit sagen?“. Er hat bei Gestapo-Verhören „kräftig lügen“ müssen, um die Mitverschwörer und die Möglichkeit der Durchführung des Putschplans nicht zu gefährden.
Bonhoeffers Verantwortungsethik lässt sich offensichtlich als ‚Situationsethik‘ bezeichnen – natürlich nicht in dem Sinne eines ‚unverantwortlichen‘ Verhaltens, des Agierens in einer „servilen Gesinnung vor dem Faktum“, oder um ‚den Dingen ihren freien Lauf zu lassen‘. Sie ist aber auch keine prinzipiell-‚gesetzliche‘ Ethik, die vor ‚gesetzten‘ unüberschreitbaren „Grenzen“ oder „Verboten“ zurückschreckt. Vielmehr ist ein Handeln verantwortlich, wenn sich das Subjekt unter dem Wort Gottes weiß, dem Gnadenwort, das zu einem „freien Leben“ befreit. Verantwortlich zu handeln heißt, unter sorgfältiger Abwägung der in einer realen Situation gegebenen Bedingungen ein „Wagnis des Glaubens“ einzugehen in der Hoffnung auf „Gottes Vergebung“ und „Gottes Vorsehung“.
Um Bonhoeffer wahrhaft ‚lebensgroß‘ zu begegnen, ist eine Betrachtung des Briefwechsels mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer unerlässlich. Dazu reicht heute die Zeit nicht. In einem Vortrag 2006 bin ich darauf eingegangen.
[M. Miyata, „Polyphonie des Lebens“: Im Festvortrag zum 100. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers sprach ich in Tokyo am 21. März 2006 anhand der Brautbriefe Zelle 92 (1992 im C. H. Beck Verlag München veröffentlicht) über die tiefe Beziehung zwischen Gottesliebe und Menschenliebe. Einen weiteren Festvortrag hielt damals Ilse Tödt aus Deutschland: „Von Bonhoeffers Wagnis, das Friedensgebot Gottes zu wissen“.Beide Vorträge kann man lesen auf der home page der DOAM (Deutsche Ostasienmission)]
Stattdessen möchte ich hier einen Auszug aus dem Buch von Ruth von Wedemeyer vorstellen: In des Teufels Gasthaus. Eine preußische Familie 1918–1945 (1993). Die Autorin, Marias Mutter, berichtet in ihren Erinnerungen von zwei Sprecherlaubnissen bei Bonhoeffer im Tegeler Gefängnis. Die Besuche „wurden vom uns gegenübersitzenden Wächter von der genehmigten Viertelstunde auf eine Dreiviertelstunde ausgedehnt, bis Dietrich seinerseits aufstand und den Anstoß zur Beendigung gab. […] Der Wächter brachte ihn fort, veranlasste mich aber noch auf seine Rückkehr zu warten. Als ich ihm für die Ausdehnung der Unterhaltung dankte, sagte mir dieser einfache Mann, während er mir in meinen Mantel half, es sei ihm selbst eine Freude gewesen, das Gespräch zu verfolgen, und wenn er so etwas irgendeinem Gefangenen gönne, so diesem. Er sei der einzige Mann, der mit dieser Lage stets fertig würde. Er sagte wörtlich: ‚Ich habe noch keinen Gefangenen gesehen, der wie dieser kein einziges Mal einen Gefängniskoller gehabt hat.‘ […] Ich ging frohen Herzens nach Hause, gestärkt von dem Eindruck, dass auch dies Haus der Schrecken einen Herrn hat und dass dieser Herr ein äußerlich Gefangener war.“
In den Memoiren Ruth von Wedemeyers ist auch ein Brief Bonhoeffers enthalten, den er fast ein Jahr nach seiner Inhaftierung an sie schrieb. Er beginnt so:
„Liebe Mutter! Wenn Ihr an Deinem Geburtstag im großen Familien- und Freundeskreis zusammen seid und fröhlich und dankbar den schönen Tag feiert, dann musst Du wissen und spüren, dass aus der Stille einer verschlossenen Zelle heraus unaufhörlich gute Gedanken und Wünsche zu Dir gehen und dass keiner fröhlicheren und dankbareren Herzens bei Dir sein kann als der, der sich erst seit einem Jahr Dein Sohn nennen darf und weiß, dass er eine gute Mutter gefunden hat.“
Marias Mutter hatte – wahrscheinlich aus Sorge, die Entscheidung der Tochter, Dietrichs Ehefrau werden zu wollen, sei voreilig – als Bedingung für die Verlobung eine einjährige Wartezeit ausbedungen. Inzwischen waren durch Bonhoeffer Inhaftierung die Aussichten auf eine Heirat ungewiss geworden. Frau Ruth scheint ihre Bedingung bereut, vielleicht sogar als Schuld empfunden zu haben. Sie schreibt im Rückblick auf die nur zwei genehmigten Besuche im Gefängnis: „Dietrich lehnte es im Laufe dieses Gesprächs ab, seine jetzige Situation als ein ‚Kreuz‘ zu bezeichnen. Er gab mir erstaunliche Hilfen für mein Leben, so dass mir das Herz höherschlug.“ Das lässt uns ihren tief dankbaren Respekt Bonhoeffer gegenüber spüren.
Während der ‚Begegnungsreise‘ im Sommer 1983 konnte ich unerwarteter Weise im Tegeler Gefängnis die Zelle 92 betreten, in der Bonhoeffer einsaß. Der Gefängnisdirektor hatte eine Sondergenehmigung erteilt und mir eine für den Informationsdienst zuständige Begleitperson beigegeben. Wahrscheinlich war nie zuvor ein Bonhoefferforscher aus Japan in der Zelle gewesen. (Dass es mir persönlich erlaubt wurde, lag vielleicht an meinem Titel als Professor der juristischen Fakultät einer japanischen Nationaluniversität.) Die Einzelzelle wurde noch genutzt; der aktuelle Insasse war herausgeholt worden, damit ich eintreten und sie besichtigen konnte. Obwohl sich die Einrichtung seit der Zeit des Nationalsozialismus erheblich verbessert zu haben schien, kam ich nicht umhin, nachzuempfinden, wie quälend es für Bonhoeffer gewesen sein muss, durch das vergitterte Fenster der engen Zelle in die weite Welt hinauszublicken.
Übrigens besichtigte ich später, im Jahre 1992, auch die Überreste des Reichssicherheitshauptamts, der nationalsozialistischen Zentralbehörde für ‚Gefährder‘-Verfolgung, in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin. Dorthin wurde Bonhoeffer am 8. Oktober 1944 überführt. Kriegszerstörungen machten diese Stätte zum Trümmerhaufen. Im Sommer 1986, anlässlich des 750jährigen Jubiläums der Stadt Berlin, gruben Bürger sie aus. Sie mahnt jetzt unter dem Namen „Topographie des Terrors“ an die Schrecken des NS-Regimes.
An einem Sommerabend 1992 stiegen wir, meine Studenten und ich, hinab zu den teilweise freigelegten unterirdischen Gefängniszellen. Vier Monate lang saß Bonhoeffer dort in der Einzelzelle Nummer 25 ein. Den härtesten Verhören hielt er stand, ohne sich zu unterwerfen. Zur Erinnerung nahm ich ein Stück Ziegel aus den Trümmern mit.
[Ein Zeugnis aus dem Kellergefängnis: Nach dem Scheitern des Attentat-Versuchs am 20. Juli 1944 wurde Bonhoeffer vom Tegeler Gefängnis verlegt in den Gewahrsam des Reichssicherheitshauptamts. Fabian von Schlabrendorff, der Ehemann von Marias Cousine, der ebenfalls dort inhaftiert war, beschrieb nach dem Krieg Bonhoeffers Verhalten in dieser zunehmend grausamen Haftzeit wie folgt: „Immer war er guter Laune, immer gleichbleibend freundlich und gegen jedermann zuvorkommend, so dass er zu meinem eigenen Erstaunen binnen kurzer Frist seine nicht immer von Menschenfreundlichkeit erfüllten Wächter psychisch kaptiviert hatte. In dem Verhältnis zwischen uns war bezeichnend, dass er eher immer der Hoffnungsvolle war, während ich zuweilen unter Depressionen litt. Immer war er es, der einem Mut und Hoffnung zusprach, der nicht müde wurde zu wiederholen, dass nur der Kampf verloren ist, den man selbst verloren gibt. Wieviel Zettel hat er mir zugesteckt, auf denen der Bibel entnommene Worte des Trostes und der Zuversicht von seiner Hand geschrieben waren.“]
Zum Schluss möchte ich kurz zwei Punkte ansprechen, die wir aus Bonhoeffers Leben und Denken für die Gegenwart zu lernen dringend nötig haben.
Der erste Punkt betrifft die Eigentümlichkeit seines Glaubens. In einem im Gefängnis im Mai 1944 geschriebenen Brief steht das Wort:
„… unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“
„Beten“ heißt, sich Gottes Wirklichkeit zuzuwenden, die in Jesus Christus in die Alltagswirklichkeit dieser Welt eingegangen ist. Es befreit uns von der Befangenheit in uns selbst und in unsere eigenen Interessen und Neigungen, und es bindet uns an die Verantwortung für das „Tun des Gerechten“ in dieser Welt. Das Gebet zu Gott richtet unser Verhalten recht und bewahrt davor, dem Opportunismus nachzugeben, der das Verhalten dem faktisch Vorhandenen anpasst, oder der Versuchung zu erliegen, die eigene Verhaltensweise ideologisch zu verabsolutieren.
Um dies etwas allgemeiner zu erklären, erinnere ich Sie an die Gebets-Zeile in dem anfangs zitierten Gedicht „Wer bin ich?“: „Wer ich auch bin, Du kennst mich“. In solchem Glauben und Beten lernt man die Liebe Gottes kennen, dessen Schaffen man sein Mensch-Sein verdankt. Das ermöglicht die Selbstakzeptanz in der Bescheidung, sich so anzunehmen wie man ist. Aus diesem Selbst-Bewusstsein, ein unersetzbares ‚Individuum‘ zu sein, entsteht darüber hinaus auch ein Mitgefühl für den ‚Anderen‘. Man wird offen für die Existenz des Nächsten, der ebenso ein unersetzbares Selbst ist. Man erkennt, dass die Befremdung, die einen vorher im Gegenüber zum ‚Anderen‘ beschlichen hatte, in Wirklichkeit ein Gespür war für die ‚Fülle der Gnade Gottes‘ in der Vielfalt der Schöpfung. So wird im Gebet = im Glauben das Mit-Leben zu sozialer Solidarität konkretisiert und die Flucht des Einzelnen ins eigene verschlossene Innere abgewendet.
Gegen Ende dieses Briefes aus dem Mai 1944 fügt Bonhoeffer dem „Beten“ und dem „Tun des Gerechten“ noch hinzu: „und auf Gottes Zeit warten“. Dies zeugt von einer noch wunderbareren eschatologischen Hoffnung. Nun wird die Position des Menschen dreidimensional bestimmt: auf der vertikalen Achse der Beziehung zu Gott, auf der horizontalen Achse der Beziehung zum Anderen, und auf der Zeit0-Achse des Hinzukommens, der Zukunft. Das erinnert an einen Satz in einem Manuskript („Nach zehn Jahren“), das den Gefängnisbriefen vorangestellt worden ist:
„Uns bleibt nur der sehr schmale und manchmal kaum noch zu findende Weg, jeden Tag zu nehmen, als wäre er der letzte, und doch in Glauben und Verantwortung so zu leben, als gäbe es noch eine große Zukunft.“
[„Nach zehn Jahren“: In dem Manuskript, das mit der Überschrift „Nach zehn Jahren“ (DBW 8, 19-39) beginnt, legt Bonhoeffer an der Wende zum Jahr 1943 Rechenschaft ab über die Lehren der (seit Hitlers Machtergreifung) vergangenen Dekade. Vier Exemplare wurden als Typoskript erstellt, drei davon gingen als Weihnachtsgabe an Bonhoeffers engste Freunde. Der Text hätte der Strafverfolgung durch die Gestapo als Schuldbeweis dienen können. Wahrscheinlich haben die drei Empfänger die jeweils 14 Seiten vorsichtshalber vernichtet. Ein einziges Exemplar ist erhalten geblieben; es überdauerte den Sturm des nationalsozialistischen Dritten Reichs versteckt zwischen Dachsparren des Einfamilienhauses in der Marienburger Allee 43 in Berlin-Charlottenburg, wo Bonhoeffer bei seinen Eltern ein Arbeitszimmer hatte. Es ist wirklich ein Wunder des Glücks, dass dieser Text nach dem Krieg ans Licht der Welt kam. Als ich das Bonhoeffer-Haus besuchte und in dem Stuhl saß, in dem Dietrich Bonhoeffer diese Arbeit schrieb, war ich zutiefst bewegt. In der Rechenschaft „Nach zehn Jahren“ sehen wir, wie Bonhoeffer seine eschatologische Hoffnung lebt. Ein Abschnitt unterscheidet vom „dummen, feigen Optimismus“ den „Optimismus als Willen zur Zukunft“: „er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. […] Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“]
Im Warten auf Gottes Zeit ist uns geboten, auf das Zu-Kommen des verheißenen Reiches Gottes antwortend tägliche Verantwortung zu leben. Hier klingt Karl Barths eschatologische politische Ethik des „Wartens und Eilens“ an.
Der zweite Punkt, auf den ich zum Abschluss eingehen möchte, um bei Bonhoeffer zu lernen, betrifft das für uns heute dringlichste Friedensproblem. In Ostasien wurde kürzlich in der Tendenz eines „neuen Kalten Krieges“ eine Politik der militärischen Aufrüstung vorgestellt, die unter dem Namen der Selbstverteidigung Angriffsfähigkeiten gegen feindliche Stützpunkte (Gegenschlagsfähigkeiten) verlangt und sogar Präventivschläge ermöglichen soll. Und zwar wird dies als „proaktiver Pazifismus“ bezeichnet! Welch eine Verdrehung.
Angesichts dessen zitiere ich aus Bonhoeffers Rede während einer ökumenischen Tagung, die auf der dänischen Nordseeinsel Fanø abgehalten wurde. Am Vormittag des 28. August 1934 führte er aus:
„Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? […] Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern.“
Nach Sicherheit zu trachten bedeutet, dass man dem anderen misstraut und sich selbst schützen will. Dieses gegenseitige Misstrauen ist der Auslöser für Kriege. Mit Sicherheit verwechselter Friede muss immer scheitern. Nicht nur die Gegenseite bedroht Frieden und Koexistenz. Vielmehr entsteht Krieg aus der beiderseitigen „Feind-Beziehung“, in welcher beide Seiten glauben, die militärische und psychologische Einschüchterung des Gegners würde die eigene Sicherheit gewährleisten.
Solange das Bild einer „Feind-Beziehung“, in das man hineinprojiziert, sich gegenseitig Angst und Schrecken einzujagen, als Staatspolitik reproduziert wird, bleibt die „Logik der Abschreckung“ (Dieter Senghaas) durch militärische Macht bestehen. Manipulierte Befürchtungen bestimmen als unverzichtbare Mittel zur Mobilisierung der Massen noch immer die internationalen Beziehungen zwischen Ost und West. Dies ist nichts anderes als ein Glaube an Atomwaffen – „nuklearer Aberglaube“. (Dazu habe ich Stellung genommen im Iwanami Taschenbuch Die Philosophie des unbewaffneten zivilen Widerstands.) Wie dumm von Japans politischer Führung, den G7-Gipfel in Hiroshima vor einigen Jahren stolz als ‚politischen Erfolg‘ zu werten und gleichzeitig in der „Hiroshima-Vision“ die „nukleare Abschreckung“ zu preisen!
In Bonhoeffers „Friedensrede “1934 hat mich besonders Folgendes überrascht:
„Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen [wie Martin Luther im Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ dichtete] den Angreifer empfinge?“
Bonhoeffer rief in dieser Ansprache die Christen in aller Welt zu gläubiger Kriegsdienstverweigerung auf. Obwohl sich dies nur auf Christen bezog, steht es offensichtlich im Einklang mit dem Geist des Pazifismus in der geltenden japanischen Verfassung. Die Präambel betont das Vertrauen zu „friedliebenden Völkern“, und der Artikel 9 legt fest, dass auf jegliche Verfügung über „Streitkräfte“ und auf „das Recht des Staates auf Kriegführung“ verzichtet wird. Diese Bestimmungen der japanischen Friedensverfassung haben die individuelle Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auf die nationale Ebene erweitert. Das ist von bahnbrechender Bedeutung – ein Appell an das Gewissen jedes einzelnen japanischen Bürgers, die Beschlüsse praktisch umzusetzen, eine Aufgabe, die wir, Sie als Zuhörer und ich als Vortragender heute, ernsthaft und eigenständig überdenken sollen.
Fussnoten: [Text]