"Verleih uns Frieden gnädiglich"

Aktuelle Meldung vom: 20.07.2022

„Verleih uns Frieden gnädiglich.“


Über das Gebet für den Frieden im Zusammenhang des Ukrainekriegs


1. Der christliche Gottesdienst endet in der Regel mit der alten Bitte um den Frieden Gottes: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine.“ Es ist die Verdeutschung der Antiphon Da pacem Domine aus dem 9.Jahrhundert durch Martin Luther. Mit dieser Friedensbitte gibt sich die betende Gemeinde ganz in die Hände Gottes, vertraut seiner schützenden und erhaltenden Macht in den Konflikten der Zeit. Wenn man „Verleih uns Frieden gnädiglich“ singt, begibt man sich sozusagen in die „schlechthinnige Abhängigkeit“ von Gott (wie Schleiermacher diese Glaubenshaltung nannte).
Irgendwie beruhigt dieser kurze Gesang, er hat eine wohltuende Wirkung. Danach kann man hinaustreten in die Welt und seine Aufgaben wieder anpacken. Es ist ein Trost, dass diese kurze Antiphon über ein Jahrtausend hinweg, zunächst auf Lateinisch, dann in den Landessprachen, ihre segensreiche Wirkung entfaltete. „Verleih uns Frieden gnädiglich“. Der betende und singende Christ wendet sich an Gott als die letzte Instanz, die alles in der Hand hält, gerade auch in Situationen der Ohnmacht. Mir fällt ein Erlebnis aus den 80er Jahren ein. Bei einer gewaltfreien Blockade des AKW Brokdorf stimmte ein kleiner Chor das „Verleih uns Frieden“ in der vierstimmigen Mottetenfassung von Heinrich Schütz an - kurz vor der Räumung durch eine Hundertschaft Polizei mit Wasserwerfer.
Es ging eine ermutigende Kraft von dem Gesang auf. Die Kraft der Schwachen!

2. In Kriegszeiten wie der jetzigen mit dem verbrecherischen Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine steigt das Gebet um Bewahrung in der Not und um Frieden besonders dringlich zum Himmel. Es ist vor allem das inbrünstige Gebet der Opfer des Krieges, der Ausgebombten, Verwundeten, Hungernden, Flüchtlinge um ein Ende ihrer Not. Die Mütter, die um ihre getöteten Söhne die trauern, der Frauen, die ihre Männer verloren haben. Der Kinder, die ihre Väter vermissen – in ihrer Verzweiflung rufen sie zu Gott, erbitten seinen Frieden inmitten aller Bedrängnis. Die alten Frauen, die vor den Trümmern ihre zerstörten Häuser sitzen und im namenlosen Kummer die Hände ringen. Die durch den Krieg hervorgerufenen Leiden sind so groß, dass ein barmherziger Gott sich sofort erbarmen müsste Aber so herzzerreißend die Bitte um Hilfe und Rettung aus der Gefahr auch ist, so vergeblich ist sie zugleich. Ist die Maschinerie des Kriegs erst einmal in Gang gekommen, kann sich ihrer zerstörerischen Logik wenig widersetzen. Die Bitten um Frieden erreichen die Verantwortlichen nicht. Da ist scheinbar kein Gott, der ihnen ins Gewissen redet, sodass sie ihr Verhalten ändern, Friedensgespräche aufnehmen, eine diplomatische Lösung des Konflikts suchen. Es ist leider nicht so wie in Matthias Claudius Kriegslied (1779), wo das durch den Ausbruch des Kriegs beunruhigte Gewissen des Dichters spricht: „Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen und blutig bleich und blaß, die Geister der Erschlagnen zu mir kämen und vor mir weinten, was?“ Und weiter noch: „Wenn tausend Väter, Mütter, Bräute,/so glücklich vor dem Krieg/ nun alle elend, alle arme Leute, wehklagten über mich?“ Diesen Gewissenstraum, diese beunruhigende Vorstellung von dem Leid, das sie anrichten, haben die Krieg Führenden heute nicht. Die Millionen Gebetswünsche um ein Ende des Kriegs erreichen ihre Herzen nicht. Und vor allem nicht den Kremlherrscher, das ist inzwischen sattsam bekannt. Er zeigt keine Gewissensregungen über das Leid, das seine Soldaten anrichten. Warum also weiter um Rettung und Frieden beten, warum zu einem Gott rufen, der offensichtlich keine Macht hat, auf die Beteiligten einzuwirken?! Was noch darum beten, wenn der höchste russische Kirchenvertreter, der Patriarch Kyrill in Moskau, Putin nicht ins Gewissen reden will. Sondern stillschweigend die Lüge einer „Spezialoperation“, die gegen das angeblich faschistische Regime in Kiew gerichtet ist, mitträgt?

Gerade deshalb - damit die Opfer nicht vergessen sind. Die ukrainischen nicht, aber auch nicht die russischen! Das Friedensgebet im Gottesdienst rechnet damit, dass Gott, auch wenn er nicht eingreift, so doch gedenkt. Indem die Gemeinde öffentlich um den Frieden bittet, stellt sie die Täter vor den richtenden Gott und vor das Tribunal des Weltgewissens. Die schrecklichen Bilder aus Butscha werden nicht vergessen sein - vor dem Internationalen Haager Gerichtshof werden die Verantwortlichen später einmal zur Rechenschaft gezogen werden!

3. Gebete in der Not – „die Antwort liegt im Schrei“(Rumi)
Auch im Ukrainekrieg müssen die Betenden durch die alte Erfahrung hindurch, dass der allmächtige Gott nicht eingreift. Warum greift er nicht ein? Weil er nicht eingreifen kann! Gott kann die abgeworfene Bombe nicht in ihrem Flug stoppen. In dem Moment, in dem die Waffen sprechen, ist die Friedenssprache Gottes zur Wirkungslosigkeit verdammt. Wenn die kriegsbeteiligten Parteien Gott für ihre Sache reklamieren, wird Gott machtlos.

Was nutzen dann aber die Gebete, wenn es keine Antwort, kein Eingreifen Gottes gibt? Der islamische Mystiker Rumi sagte: “Die Antwort liegt im Schrei“. Indem der Mensch betet und sein Not herausschreit, kann er ein wenig besser mit dem Leid, das ihm widerfahren ist, umgehen. Kann er aus dem dunklen Tal, in dem er sich befindet, herauskommen.

In seinem Rechenschaftsbericht 1943 Nach zehn Jahren macht sich Dietrich Bonhoeffer Gedanken über das Walten Gottes in der Geschichte. Da fällt der Satz: „Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Das ist eine Aussage, die in diesem Zusammenhang viel zitiert wird. Sicher bleibt da zu klären, was aufrichtige Gebete sind und was nicht. Ich vermute, dass Bonhoeffer Gebete meinte, die nicht nur um der eigenen Selbsterhaltung willen an Gott gerichtet werden. Was er nicht meinte, sind Gebete, die an kindliche Einstellungen erinnern und der magischen Phase der Ich-Entwicklung entsprechen, in der man dem Vater, dem irdischen wie dem himmlischen, alles Rettende zutraut.

4.In diese eher infantile Haltung fallen auch erwachsene Menschen in Notsituationen zurück, die sonst Gott einen guten Mann sein lassen. Bonhoeffer berichtet seinem Freund Eberhard Bethge am 30. Januar 1944 über eine Erfahrung bei einem Bombenangriff, die Gefangenen mussten in ihren Zellen bleiben, durften nicht in den Bunker: „Als wir gestern Abend wieder auf dem Fußboden lagen und einer vernehmlich ‚Ach Gott, ach Gott‘ rief- sonst ein sehr leichtfertiger Geselle – brachte ich es nicht über mich, ihn irgendwie christlich zu ermutigen und trösten, sondern ich weiß, daß ich nach der Uhr sah und nur sagte: es dauert höchsten noch 10 Minuten.“ Eine kluge Reaktion, keine aufgesetzte christliche Moral, kein vertraue auf Gott etc., nein „es dauert nur noch 10 Minuten.“ Eine praktische Entwarnung.

In diesem Brief an Bethge macht sich Bonhoeffer grundsätzlich Gedanken über das Gebet in Not. „Es ist eine schwierige Sache und doch ist das Misstrauen, mit dem wir es bei uns selbst begleiten, vielleicht auch nicht gut. Ps 50 heißt es deutlich: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen.‘ Die ganze Geschichte der Kinder Israel besteht aus solchen Hilfeschreien. Und ich muß sagen, daß gerade die beiden letzten Nächte mich wieder ganz elementar vor diese Frage gestellt haben. Wenn die Bomben so um das Haus herum einschlagen, kann ich gar nicht anders als an Gott, an sein Gericht, an den ausgereckten Arm seines Zorns, an meine mangelnde Bereitschaft zu denken.“ Er bekennt dem Freund, dass er „es als beschämend empfindet, daß die Not kommen muß, um uns aufzurütteln und ins Gebet zu treiben.“ Und dass er als ernsthafter Christ da auch nicht besser dran ist als die christlich Distanzierten, die dann auf einmal Gott anrufen wie der erwähnte „leichtfertige Geselle“ mit seinem „Ach Gott, ach Gott“. Das Stoßgebet in plötzlicher Bedrängnis, das Gebet in der Not um die eigene Rettung scheint ihm menschlich verständlich, auch wenn es für einen Christenmenschen peinlich ist, wenn erst die Not ihn ins Gebet treibt. Im Unterschied dazu „gehen Christen,“ theoretisch jedenfalls, denn praktisch taten es die wenigsten in der Nazizeit, „zu Gott in seiner Not“, „stehen bei Gott in seinen Leiden“, das unterscheidet Christen von Heiden, wie Bonhoeffer in dem Gedicht Christen und Heiden aus dieser Zeit es formulierte. Bonhoeffer tat es, er ging in den Widerstand und wurde kurz vor Kriegsende hingerichtet. Die verlorene Generation der jungen Kriegsteilnehmer hingegen, die zurückkehrten aus dem Inferno, verdrängten ihre Beteiligung am Kriegsgeschehen und dessen Grausamkeiten. Wolfgang Borchert war mit seinen Kurzgeschichten und mit Draußen vor der Tür gewissermaßen ihre Stimme, sah sie als Opfer und versuchte sie von aller Schuld zu entlasten, Klage statt Anklage, Selbstmitleid statt genauer Ursachenanalyse. So lässt er seinen heimgekehrten Landser Beckmann in Draußen vor der Tür fragen: „Wo warst du eigentlich, als die Bomben brüllten lieber Gott?“ Und: „Wo warst du, als mein kleiner Junge starb?“

Gott kann nicht direkt retten, aber der Glaube an ihn kann helfen, Notsituationen auszuhalten. „Die Antwort liegt im Schrei“, wie Rumi sagt. Oder man lese die zu Herzen gehende Szene aus Thomas Manns Joseph und seine Brüder, als Rahel bei der Geburt Benjamins stirbt. „Herr, was tust du?“ fragt der erschütterte Jakob in die silbrige Weltennacht hinauf. Und dann heißt es: „ In solchen Fällen erfolgt keine Antwort. Aber der Ruhm der Menschenseele ist es, das sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.“ Das heißt mit anderen Worten aus der kindlich-magischen Haltung gegenüber dem Absoluten herauszukommen und erwachsen zu werden. Kein deus ex machina, der alles gut macht, kein himmlischer Frieden, der sich wunderbarerweise herabsenkt. Sondern die Anerkenntnis der Tatsache, dass es unbegreiflich Trauriges und schreckliches Leiden im Leben gibt.

5. Eine Karikatur des belgischen Künstlers Frans Masereel aus dem 1.Weltkrieg zeigt einen Gott, der sich angesichts der in allen Sprachen auf ihn eindringenden Gebetswünsche verzweifelt die Haare rauft: Auf wen soll er hören? Denn was sagen die Betenden - Gott, gib unseren Waffen den Sieg, give victory to our soldiers etc. Die nationalreligiöse Pervertierung des Glaubens der kriegführenden Länder wird hier eindrücklich illustriert. Jede kriegführende Partei reklamierte Gott für sich, was Gott zur Verzweiflung bringt. Wie wäre es, wenn sie alle zusammen gerufen hätten wie in der alten Litanei „Verleih uns Frieden gnädiglich“ .Oder „Dona nobis pacem“, wie es der Text der Messliturgie am Schluss des Agnus Dei formuliert? Würde sich dann etwas ändern?

In den Vertonungen der großen Komponisten, Haydn, Mozart, Beethoven, Berlioz, Verdi nimmt das Dona nobis pacem eine wichtige Rolle ein. Alles Wünschen nach Aufhebung von Streit und Krieg unter den Menschen wird darin musikalisch realisiert. Missa in tempore belli (1797) heißt eine der Haydn-Messen. Trommelwirbel und Bläserfanfaren signalisieren im Agnus Dei die heranziehende französische Armee. In Beethovens Missa solemnis(1824) tönen die angstvollen Dona nobis-Rufe in die durch Pauken und Trompeten allegorisch vorgestellte und Schrecken erregende Kriegsdrohung hinein - ein später Reflex auf Beethovens eigenes Erlebens der Besetzung Wiens 1809 durch Napoleon - und besänftigen diese Angst zugleich. Mit dem Rekurs auf die liturgische Friedensbitte beschwört Beethoven etwas objektiv Gültiges, das gerade verloren zu gehen droht „Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen“, schrieb Beethoven über seine Partitur. Dieser inständige Wunsch gilt bis heute.

Das Gebet um Frieden und um Errettung aus bedrängender Not bewirkt keine Wunder, aber es setzt Kräfte des Friedens aus sich heraus. Das zeigte sich z.B. in der Wirkung der sogenannten Ost-Denkschrift der EKD, die 1965 (!) mit ihrem Plädoyer für die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze die Entspannungspolitik beförderte, die letztlich zur  Beendigung des Kalten Kriegs und zur Wiedervereinigung beitrug. Man darf annehmen, dass die Haltung der Mitglieder der EKD-Kammer, die die Denkschrift formulierte, innerlich von dem Dona nobis pacem bestimmt war. Und wenn jetzt die Kirchen um ein Ende des Kriegs in der Ukraine, um einen Waffenstillstand beten und einen tragfähigen Frieden, wirken sie an einer künftigen Versöhnung von Ukraine und Russland mit, die gegenwärtig völlig unmöglich scheint.

Und eine zweite historische Erinnerung, die mit der Aussage „Christus ist unser Frieden“ zu tun hat: zur Zeit der Nachrüstungsdebatte zu Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts erklärte der Reformierte Bund unter Rückgriff auf ein Votum seiner niederländischen Schwesterkirche, die Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung der atomaren Abschreckung sei mit dem Evangelium unvereinbar, weil sie im Ernstfall alles zerstört, was Gott, seiner Schöpfung und uns wert und teuer sei. Mit dem Herrn Jesus Christus und in seinem Frieden könne man theoretisch unter jedem System leben. Eine solche aus dem Glauben resultierende Bereitschaft, sich in die Unfreiheit eines autokratischen Systems zu begeben, um noch mehr Zerstörung zu vermeiden, wäre heute kaum denkbar. Denn indem sich die Ukraine gegen die russischen Angriffskrieg wehrt, verteidigt sie, so wird gesagt, die Werte der europäischen Zivilisation. Deswegen sprechen sich auch die Kirchen für die Lieferung schwerer und technisch effektiver Waffen aus. Es scheint dazu keine Alternative zu geben, und doch ist es traurig, dass sie so reden und handeln. Deswegen noch mal: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott alleine.“

Prof. Dr. Hans-Jürgen Benedict, Hamburg

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