Was es braucht, um Bonhoeffer zu verstehen

Aktuelle Meldung vom: 14.09.2020

Hellmut und Ferdinand Schlingensiepen

Wir danken Hellmut und Ferdinand Schligennsiepen, daß sie dieses Interview zur Verfügung stellen, das im ibg-Rundbrief erschienen ist.

 

 

Was es braucht, um Bonhoeffer zu verstehen

Ein Gespräch zwischen Ferdinand und Hellmut Schlingensiepen

H.S. Was ist für dich der Text, den du zum Einstieg in die Beschäftigung mit Dietrich Bonhoeffer empfehlen würdest?

Wenn man Bonhoeffer richtig verstehen will, sollte man zuerst eine Biografie lesen, und damit es nicht die 1.080 Seiten vom Eberhard Bethge sind, habe ich eine kürzere geschrieben. Bethge hatte den Wunsch, die Gedanken seines Freundes genau und fehlerlos zu erfassen und zu beschreiben. Dass er das Buch geschrieben hat, war die Grundvoraussetzung für meine Biografie. Die hätte ich ohne ihn nie schreiben können.

Hat Eberhard Bethge deine Biografie gelesen?

Nein, er ist im März 2000 gestorben, und meine Biografie ist 2005 erschienen, aber Bethge hatte mich schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gebeten, eine kürzere Biografie zu schreiben. Erst nach meiner Pensionierung habe ich die Zeit dazu gefunden. Und ich bin sicher, das Ergebnis wäre in seinem Sinn gewesen.

Warum sollte man das Studium Bonhoeffers mit dem Lesen einer Biografie beginnen?

Wenn man Bonhoeffer losgelöst von seiner Biografie liest, könnte man mit etwas Phantasie für jede Situation seinen eigenen Bonhoeffer erfinden.

Aber Biografie ist nicht gleich Biografie, das heißt eine Biografie muss auch erfassen, wie Bonhoeffer sich verändert hat. Sprechen wir über Eric Metaxas.

Bei aller Begeisterung für Bonhoeffer fehlt Metaxas ein Organ, weil er es scheinbar für unnötig befunden hat, sich in die deutsche Geschichte der 20er und 30er Jahre einzuarbeiten. Dafür hätte er zuerst Deutsch lernen müssen.

Nehmen wir ein Beispiel für Bonhoeffers Schriften und den Bezug zur deutschen Geschichte: ihm wird immer wieder vorgeworfen, dass er sich nicht genug für die Juden eingesetzt hätte?

Ach, das ist doch Unsinn. Bonhoeffer hat gleich 1933 zu seinen jüdischen Freunden Hildebrandt und Leipholz gestanden – ohne jede Abstriche. Was viele Menschen heute alle nicht sehen, dass man damals für pro-jüdische Aussagen direkt verschwinden konnte. Das war der Punkt an dem die Nationalsozialisten zuerst angefangen haben zu sortieren. Alles was negativ war, wurde den Juden in die Schuhe geschoben, trotz genauer Kenntnis, dass sie es nicht getan hatten.

Aber warum schreibt Bonhoeffer dann in dem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“, dass er hofft, dass die Juden doch noch gerettet werden, also sich taufen lassen?

Die Kirche hatte eine Jahrhunderte alte theologisch begründete antijüdische Haltung, und Bonhoeffer hat zu denen gehört, die das so gelernt hatten und sich da raus arbeiten mussten. Das war ein schweres Stück Arbeit. Selbst mein projüdischer Vater sagte noch lange „ja, aber…“ bis er merkte, dass die Menschen dann nur das „aber“ hörten. Dann hat er das „aber“ weggelassen und gesagt, wir müssen ohne wenn und aber zu den Juden stehen. Ich kenne noch aus meiner Kindheit dieses „ja, aber…“. Die Juden waren die modernste künstlerische, literarische und politische Schicht in Berlin und alles was sie machten, ging konservativen evangelischen Leuten gegen den Strich.

Warum? Waren die Juden den Evangelischen zu progressiv?

Deutschland hatte erst nur geringe Erfahrungen mit der Demokratie, und die Juden waren sicher eine der demokratischsten Gruppen in Deutschland. Die konservativen Schichten hätten viel lieber das alte System wiedergehabt, als sich forsch auf das Neue einzulassen. Das protestantische Deutschland trauerte dem Kaiserhaus nach und die katholischen Württemberger und die Bayern trauerten ihren Fürstenhäusern nach.

Warum waren die Juden die demokratischste Gruppe?

Sie bekamen dadurch endlich gleiche Rechte. Unter den führenden Sozialdemokraten und auch Kommunisten waren Juden. Die Juden als Gruppe waren hoch gebildet. Ihre Schulen bildeten schon seit Jahrhunderten mit dem Grundgedanken aus, dass der Mensch Fragen stellen können muss. Dass das Wichtigste die richtig gestellt Frage ist, wichtiger als jede Erklärung und jede Weisheit – und das macht kluge Leute. Darum waren junge Juden von einer gewissen Überlegenheit in allen Studienfächern, und das nahm man ihnen übel. Sie waren nicht nur eine fleißige Minderheit, sondern sie lernten schon von Jugend auf, wie man richtig forschen muss. Unter den ersten Nobelpreisträgern waren nicht zufällig verhältnismäßig viele Juden.

Was bedeutet das, wenn wir Bonhoeffer verstehen wollen?

Man muss die deutsche Geschichte kennen und dazu gehört der Antisemitismus. Dann kann man Bonhoeffers Geschichte einzeichnen, denn er hat immer auch für gesundes Denken gekämpft. Und das war ein lebensgefährlicher Kampf, wie man an ihm sehen kann. Vieles von dem, was an der deutschen Geschichte wertvoll und erzählenswert ist, ist bei den Nazis verunglimpft worden. Die waren der Meinung, nur wer „Deutschland, Deutschland über alles“ und „die Fahne hoch“ singt, ist ein richtiger Deutscher.

Und Eric Metaxas übersieht das?

Für Metaxas ist Bonhoeffer einfach der Mann, der in Deutschland gegen Hitler Widerstand geleistet hat. Und den Grund für seinen Widerstand sieht Metaxas in dem Buch „Nachfolge“. Das Buch gehört zu den interessantesten die Bonhoeffer geschrieben hat, weil es aus einer frühen Begeisterung für die Bibel und ihre Wahrheiten geschrieben ist.

Deswegen ist Metaxas auch so begeistert von Finkenwalde, morgens als erstes ein Gebet und abends als Abschluss des Tages auch?

Natürlich, da scheint Bonhoeffer die Bedingungen der Evangelikalen zu erfüllen. „Nachfolge“ ist ein interessantes und auch ein frommes Buch, aber die Fundamentalisten lesen darin, was sie wollen und nicht unbedingt das, was drinsteht.

Und wie sieht es mit „Widerstand und Ergebung“ aus?

Mit der „Gefängnistheologie“ Bonhoeffers gibt sich Metaxas nicht ab. Er sagt, die sei sehr missverständlich und später hätten Bonhoeffers Schüler daraus Unsinn gemacht. Das ganze Buch von Metaxas ist der interessante Versuch einen Liberalen zum Orthodoxen zu machen. Und zwar einen Liberalen im besten Sinne zu einem doch sehr zweifelhaften Orthodoxen. Das macht man am geschicktesten, wenn man die Geschichte, wie Bonhoeffer sich entwickelt hat, ganz weglässt. Dabei ist das das eigentliche Instrument, ihn zu verstehen.

Aber aus heutiger Sicht ist doch Bonhoeffer schon sehr konservativ oder?

Ich möchte keiner Kirche angehören, in der es nicht auch konservative Christen gibt. Ich hatte ein leuchtendes Vorbild eines konservativen Christen in meinem Vater, aber der ist für diese Art des Gehorsams auch ins Gefängnis gegangen. Da gibt es nichts zu kritisieren. Andere haben sich auf Grund ihres Glaubens rausgemogelt, auf bessere Zeiten gewartet. Mein Vater hat dagegen gedacht: Jetzt ist Gottes Zeit, also stehen wir jetzt zu ihm. Das ist einer der Gründe, warum ich meinen Vater bis heute verehre.

Warum ist es für das Verständnis Bonhoeffers so wichtig, seine Biografie und die deutsche Geschichte zu kennen?

Bei Bonhoeffer gibt es immer zwei Quellen aus denen er seine Energie schöpft: Sein Leben in der damaligen Gegenwart und sein Studium der heiligen Schrift. Es kommt allerdings nur einmal vor, dass er an Eberhard Bethge schreibt, er erlebe jetzt Tage und Wochen, wo er keinen Blick in die Bibel tue und er würde es als falsch empfinden, wenn er sich zu dieser Art Religiosität zwingen würde. Bethge hat das sofort verstanden. Er wusste was damit gemeint war, weil er Bonhoeffer kannte, aber wenn ein Evangelikaler darauf stößt, dann liest sich das für den wie eine schreckliche Verirrung.

Was meinst du mit Verirrung, kannst du das ausführen?

Die Evangelikalen lesen Bonhoeffer Schriften alle gleich, egal in welchem Kontext er sie geschrieben hat. Dass er eine dauernde Entwicklung durchlebt hat, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Deshalb zählt nur die „Nachfolge“. Das ist für sie Bonhoeffers entscheidendes Buch.

Richard Weikart, sagt 2012 in einem Artikel für das Christian Research Center über Bonhoeffer: „After reading The Cost of Discipleship, I was excited by Bonhoeffer, but my zeal for him waned after reading Letters and Papers from Prison. I discovered later that Bonhoeffer’s theology was different from my evangelical views.“ 

Weikart pickt sich hier und da etwas heraus und macht daraus die ideale evangelikale Theologie und stellt dann fest, dass Bonhoeffer leider immer wieder und manchmal „ganz schlimm davon abgewichen“  ist. „Auch wenn wir ihn bewundern, müssen wir deshalb erkennen, das ist nicht unser Lehrer.“ Aber gerade das, für das sie ihn nicht bewundern, sind die Gedanken, die bei ihm wichtig sind.

Bonhoeffer hat in der Haft über die „Nachfolge“ geschrieben, er stünde noch immer zu diesem Buch, aber er sehe doch sehr die Schwächen. Aus dem Gefängnis kann er das Buch als einen wichtigen Schritt auf seinem Wege sehen und weiß auch, dass er vieles richtig gesehen hat: „Nur der Gehorsame glaubt und nur der Glaubende ist gehorsam.“ – So fängt das Buch ja an. Später sagt Bonhoeffer, „ich nehme weiter die Bibel wichtig und lese sie jeden Tag, aber ich lese sie anders und sie bedeutet heute etwas anderes für mich, als sie mir damals bedeutet hat. Ich bin seitdem einen langen Weg gegangen.“ Damals hätte er auch nie gesagt, wir müssen Hitler ermorden. Diese Situation, dass er einen Mord nicht nur für notwendig, sondern für geboten hält, in der ist er früher nicht gewesen.

Und da kann man bei Bonhoeffer Stellen finden, womit sich das belegen lässt?

Das Wort geboten verwendet er so nicht, aber ich habe eine Stelle gefunden, wo er ganz klar belegt, warum Hitler weg muss und dass er zu denen gehört, die das anstreben. Das sind Stellen aus der Ethik, das hat er drucken lassen. Man muss nur eben reinsetzen, wer gemeint ist…

Kannst du noch ein frühes Beispiel dafür nennen, wo Bonhoeffer bei seinem Leben in der Gegenwart verändert wurde? Etwas das ihn geprägt hat?

Am wichtigsten ist da sein Studienjahr 1930/31 in New York. In Amerika geht er zur Abyssinian Baptist Church. Sein amerikanischer Freund Paul Lehman hat gesagt, Bonhoeffer sei der einzige von ihnen gewesen, der das, was da zu lernen war, ernst genommen habe und der von da wirklich etwas mitgenommen hätte nach Europa. Danach konnte es für Bonhoeffer kein Verständnis und keine Entschuldigung für Rassismus mehr geben. Bonhoeffers Geschichte ist von Anfang an eine Geschichte, in der er ständig dazu gelernt hat. Lehman beschreibt ihn als einen Neugierigen, der nie mit ersten Eindrücken zufrieden war, sondern sie bis ins Letzte durchdenken wollte.

Mit dieser Fähigkeit zu fragen, war er ein zum Beispiel durch das Alte Testament geschulter Mensch, aber er hat auch bei Adolf von Harnack, der seine Art zu Fragen aus dem Liberalismus hatte, viel gelernt. Er hat zuerst bei Harnack theologisches Denken gelernt, später auch bei Karl Barth.

Neben seiner Nachdenklichkeit und der Fähigkeit die richtigen Fragen zu stellen, was ist noch wichtig, um Bonhoeffer zu verstehen?

Bei Bonhoeffer ist ein Teil seiner Wirkung die Erziehung im Elternhaus gewesen. Die Mutter war warmherzig, liebevoll und impulsiv. Als einer ihrer Söhne zu ängstlich beim Schwimmen war, ist sie mit all ihrer Kleidung ins Wasser gesprungen, um ihm zu zeigen, dass man da nicht so ängstlich sein darf. Aber sie konnte nicht schwimmen und musste mit Mühe wieder rausgezogen werden. Der Vater kannte die Namen aller Blumen am Wegesrand und vieles mehr. Er verlangte, dass man sich gut ausdrückte, aber man wurde verlacht für zu hochgestochene Ausdrücke. So sind die Kinder zu ihrem guten Stil gekommen.

Kommen wir noch einmal zu Metaxas und der Vereinnahmung Bonhoeffers durch Evangelikale. Wie siehst du die Verehrung Bonhoeffers durch den amerikanischen Botschafter?

Der amerikanische Botschafter Richard Grenell ist schon als Kind im Elternhaus für Bonhoeffer begeistert worden. Erstens hatte Bonhoeffer Hitler gegenüber die Haltung eingenommen, die in der Nazizeit alle Deutschen hätten haben sollen. Und begeistert hat ihn zweitens die „Nachfolge“. Das Buch bei dem man diese Haltung Bonhoeffers schon finden kann, begründet im fast biblizistischen Glauben. Das ist das Buch, an dem sich die Evangelikalen festhalten. Und dann kommen später in Bonhoeffers Schriften die Dinge, die sie nicht mehr verstehen, weil er sich entwickelt hat.

Du sprichst von einer Entwicklung Bonhoeffers, sind seine letzten Texte aus der Haft dann wahrer als die frühen?

Nein. Was ist Wahrheit kann man da fragen, wie Pontius Pilatus. Wenn man die Geschichte Bonhoeffers kennt, ist es verhältnismäßig leicht, über jede einzelne Phase seines Lebens zu reden, ohne die anderen auch nur zu erwähnen, weil man dann weiß, wo das Gewicht liegen muss. Dann kann man ihn kritisieren oder auf Bedeutendes hinweisen – auf Letzteres leichter als auf Fehler. Er ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch gewesen, aber man muss seine Geschichte kennen. Wenn man nur das rausgreift, was einem gefällt, wird man ihm nicht gerecht. Metaxas und alle die Metaxas folgen, sagen, das Buch „Nachfolge“ ist wunderbar, danach wird Bonhoeffer „schwer verständlich“ und taugt auch eigentlich nicht viel. Das sagt ja Metaxas ganz offen: „Die zuweilen ins Unreine geschriebenen Gedanken in den Briefen an Bethge sind alles was wir haben, und sie haben gleichsam die einzelnen Stränge des theologischen Erbes verheddert.“
Wie man dann eine Lebensgeschichte Bonhoeffers schreiben kann? Das kann nur falsch werden.

Aber wie kann Bonhoeffer für die Evangelikalen ein so Großer werden, wenn er doch eigentlich erst durch seine Mitwirkung am Widerstand so bedeutend geworden ist?

Die Ermordung Hitlers, dieses letzte Einstehen bis zum Tode, und dann zu sagen, in diesem Ende ist mein Beginn – Menschen die ein entschieden christliches Leben anstreben, machen den Mann zu einem Vorbild das man zwar nie erreicht, aber bei dem es lohnt, wenn man es vor Augen hat.

Mein Bonhoefferbegriff, meine Bewunderung ist eine ganz andere, weil ich nicht die Geschichte einfach weglasse. In seiner Geschichte entdecke ich, dass man in verschiedenen Situationen vielleicht kein verschiedener Mensch sein soll, aber dass man den Andern als verschieden erscheinen darf. Bonhoeffer könnte man auch darstellen als einen der lebenslang gelernt hat. Noch im Gefängnis lernt er ständig, noch auf dieser letzten Reise. Und erst als er sagt, das ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens, da war seine Lebens- und Weltkenntnis abgeschlossen.

 

Nach diesem Gespräch mit meinem Vater, wollte ich genauer prüfen, wo die Probleme der Biografie von Eric Metaxas liegen. Hierfür habe ich an zwei Stellen die Biografien von Eberhardt Bethge, Eric Metaxas und meinem Vater miteinander verglichen.

 

1.       Eric Metaxas erklärt, was Bonhoeffer gedacht hat

Um zu zeigen, wie Eric Metaxas sein Bonhoefferbild entwickelt, lohnt es sich zuerst zu vergleichen, wie die folgende Episode in den verschiedenen Biografien erzählt wird: Im April 1933 wurde Dietrich Bonhoeffer gebeten, den Vater seines Schwagers Gerhard Leibholz zu beerdigen. Er lehnte dies ab, aber er bereute es bereits im Herbst. Am 23. November schrieb er seinem Schwager: „Es quält mich jetzt …, daß ich damals nicht ganz selbstverständlich Deiner Bitte gefolgt bin.“ (DBW 13, 34f)
Zu der Entscheidung Bonhoeffers liest man bei Eberhardt Bethge:

Dietrichs Geschwister hätten es gern gesehen, wenn er ihn beerdigt hätte; er ließ sich in dieser Lage jedoch bestimmen, beim zuständigen Generalsuperintendenten nachzufragen, der ihm dringend davon abriet, jetzt einen Juden zu beerdigen. (326)

Der Superintendent musste Bonhoeffer abraten, denn es war einem ordinierten Pfarrer kirchenrechtlich verboten, Menschen zu beerdigen, die nicht zur Evangelischen Kirche gehörten. Soweit die bekannten Fakten. Diese kurze Episode, die mein Vater in seiner Biografie gar nicht erzählt, da Bonhoeffers Entscheidung nur eine Frage des Kirchenrechts war, baut Eric Metaxas zu einer zentralen Frage für Bonhoeffer auf und suggeriert dem Leser, der sich nicht mit dem Kirchenrecht der Zeit auskennt, er wisse, was Bonhoeffer gedacht hat:

„Für Dietrich war es eine knifflige Situation, und er gab später zu, dass er ihr nicht ganz gewachsen war. Leibholz war Jude, aber anders als sein Sohn kein getaufter Christ. Bonhoeffer war immer peinlich bemüht, allen Aspekten einer Sache gerecht zu werden. Jetzt fragte er sich, wie es wohl wirken würde, wenn jemand, der in der Judenfrage offen Stellung gegen die Nazis bezogen hatte, auf der Beerdigung eines Juden sprach, der noch nicht einmal Mitglied der Kirche war. Würde man die Predigt als Brandrede deuten? Würde sie seine Möglichkeiten zu weiterem Handeln innerhalb der Kirche zunichtemachen? Oder würde sie ihn in den Augen der Personen in der Kirche, die seine Einstellung zur Judenfrage schon jetzt zu radikal fanden, unglaubwürdig machen?“ (201)

Immerhin hat Metaxas in der deutschen Ausgabe ergänzt, dass es bei Bonhoeffers Entscheidung um Kirchenrecht ging. Im englischen Original heißt es dagegen bis heute nur: „Knowing the uproar it might cause, his superintendent strongly opposed the idea of Bonhoeffer’s preaching, and so Dietrich declined.“ (159) Der Text wurde in der englischen Ausgabe der Biografie nie geändert. Es wäre spannend zu vergleichen, ob es weitere Fehler gibt, die zwar in der deutschen Ausgabe angepasst, aber in der Originalausgabe nie korrigiert wurden, und welchen Einfluss diese Fehler auf das Bonhoefferbild haben, das Eric Metaxas entwickelt.

 

2.       Eric Metaxas und Bonhoeffers letzte große theologische Arbeit

Im Gegensatz zu seiner Ausschmückung der Geschichte von der Beerdigung des Vaters von Bonhoeffers Schwager, wischt Metaxas Bonhoeffers ab April 1944 entwickelte Gefängnistheologie mit einem Satz weg: „Die zuweilen ins Unreine geschriebenen Gedanken in den Briefen an Bethge sind alles was wir haben, und sie haben gleichsam die einzelnen Stränge des theologischen Erbes verheddert.“ (581)

Metaxas führt aus, dass Bonhoeffer Bedenken äußert, als Bethge die Briefe einigen der Finkenwalder Studenten zeigen möchte. „Ich würde es von mir aus noch nicht tun, weil ich nur zu Dir so ins Unreine zu reden wage und davon Klärung erhoffe.“ (582) Metaxas zitiert diesen Satz Bonhoeffers aus Bethges Biografie, aber er unterlässt es seinem Leser zu erzählen, zu welchem Schluss Bethge in Bezug auf Bonhoeffers „Theologie der mündigen Ohnmacht“ (958) kommt:

Mir scheint, daß wir zwar nicht die reife Frucht eines neuen Wuchses aus Bonhoeffers Arbeit vor uns haben, aber sicher auch nicht nur einen vagen, unverbindlichen Versuch … Seine ersten Visionen waren stets sehr ausgeprägt und bestimmt. Später pflegte er die Grundthesen weiter zu substantiieren, nicht freilich ihre Schärfen zu glätten. (968)

Anschließend erläutert Bethge das letzte große Thema Bonhoeffers auf den Seiten 969 bis 996 ausführlich. Am Ende zitiert er einen Brief Dietrich Bonhoeffers an ihn vom 23. August 1944:

Du machst Dir also die Mühe von Auszügen aus meinen sehr vorläufigen Gedanken. Ich denke, Du wirst, wenn Du sie weitergibst, alles bedenken, was da zu bedenken ist, nicht wahr? … Im übrigen kannst Du Dir denken, wie sehr es mich freut, dass Du Dich damit beschäftigst. (996; DBW 8:575)

Bonhoeffer war am Ende also sehr wohl einverstanden, dass sein Student und enger Freund Eberhard Bethge seine Arbeit weitergibt.

 

3.       Warum Eric Metaxas diesen letzten Entwicklungsschritt unterschlägt

Bethge ist mit Widerstand und Ergebung“ nicht leichtfertig umgegangen, er schreibt:

Erst nach Zögern und Bedenken, ob und wie Bonhoeffers unfertige Briefmeditationen veröffentlicht werden könnten, erschienen sie im Winter 1951/52. Die Überraschung war groß. Bonhoeffers Bild war bis dahin durch die „Nachfolge“ und durch seine angeblich radikale Orthodoxie im Kampf der Bekennenden Kirche so festgelegt, daß niemand erwartet hatte, ausgerechnet von ihm eine vehemente Wiederaufnahme liberaler Fragen zu erfahren. (996f)

Weil Metaxas es für erlaubt hält, Bonhoeffers letztes großes Thema einfach auszublenden, kann er in seiner Biografie ein unvollständiges, und darum in letzter Konsequenz falsches Bonhoefferbild zeichnen. Dietrich Bonhoeffer hat seine letzte theologische Hauptfrage, wie Bethge schreibt, viermal formuliert.

Am 30. April schreibt er (Bonhoeffer Anm. d. Verf.): „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage … wer Christus eigentlich ist.“ … Im gleichen Brief differenziert Bonhoeffer aus derselben Haltung heraus noch einmal seine Frage, als er die Mündigkeit der Welt erörtert: „… wenn wir schließlich auch die westliche Gestalt des Christentums nur als Vorstufe einer völligen Religionslosigkeit beurteilen müßten, was für eine Situation entsteht dann für uns, für die Kirche? Wie kann Christus auch der Herr der Religionslosen werden …“ (969)

Bethge fährt fort:

 …  Am 8. Juni faßte er das Thema in knappster Aussageform: „Christus und die mündige Welt.“ … Bald darauf variierte er noch einmal: „… die Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus.“ (970)

Wenn man die Biografie von Eberhardt Bethge liest wird klar, dass Bonhoeffers Entwurf sehr viel weiter entwickelt war, als Metaxas uns glauben machen möchte und dass Bonhoeffer Bethge seine letzte theologische Arbeit zur Veröffentlichung anvertraut hatte, weil er wusste, dass sein Freund verantwortlich damit umgehen würde.

Hellmut Schlingensiepen,
Düsseldorf am 20. März 2020

 

 

 

 

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