Zum 75. Todestag Dietrich Bonhoeffers

Aktuelle Meldung vom: 27.03.2020

Prof. Hartmut Rosenau

Tegel 1944

Zum 75. Todestag von Dietrich Bonhoeffer

 

Am 9. April 1945 ist Dietrich Bonhoeffer, der „Theologe, Christ und Zeitgenosse“, im Alter von 39 Jahren im Konzentrationslager Flossenbürg von Schergen der Nationalsozialisten ermordet, gehängt, hingerichtet worden. Er gehörte der Widerstandsgruppe gegen Hitler um Admiral Canaris und General Oster an, die den „Führer“ beseitigen wollte. Aber diese Pläne misslangen wie die Attentatsversuche. Dietrich Bonhoeffer kam in Haft und musste, wie viele andere auch, mit seinem Leben dafür bezahlen.

Das ist am 9. April 2020 nun 75 Jahre her. Dieses Datum erinnert aber nicht nur an das, was gewesen ist. Es informiert nicht nur über Vergangenes, sondern es mahnt uns auch und vor allem zur Umkehr hier und heute. Es fordert uns zur „Buße“ auf, zum Überdenken eines falschen Weges, wie es der ursprünglichen Bedeutung dieses alten Wortes entspricht. Die Erinnerung an den Todestag Bonhoeffers motiviert dazu, sich auf das auszurichten, was wirklich zählt, auf das Wesentliche, auf das wahrhaft Menschliche. Gerade im Licht der Osterbotschaft wird deutlich: In Christus ist das neue Leben wirklich und damit auch für uns jederzeit möglich. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Wir können - wie Bonhoeffer - zum Unmenschlichen Nein sagen und Widerstand leisten.

Bonhoeffers Weg in den politischen Widerstand damals ist zugleich ein Weg in den theologischen Widerstand gewesen - und umgekehrt. Denn Politik und Kirche, Welt und Reich Gottes gehören zu der einen ungeteilten, ganzen Wirklichkeit. Deshalb kritisierte Bonhoeffer ein „Denken in zwei Räumen“, wie es sich insbesondere in der lutherischen Theologie und Kirche Deutschlands im 20. Jahrhundert eingebürgert hatte. Gegen die ursprüngliche Absicht Luthers wurde die eine Wirklichkeit in „zwei Reiche“ geteilt - das weltliche und das geistliche, Politik und Kirche. Beide Teile stehen dann mit je eigenen Gesetzen, Normen und Werten beziehungslos neben einander. Die Kirche mischt sich in die Politik nicht ein, selbst dann nicht, wenn der Staat dämonisch wird und seine Grenzen schon längst überschritten hat. Gegen solche fatalen Entwicklungen leistete Bonhoeffer im Namen der „Nachfolge“ Jesu Christi und seiner „Mandate“ theologisch aufklärenden und politisch aktiven Widerstand.

Welt und Reich Gottes gehören zu der einen unteilbaren Wirklichkeit, aber man kann und muss sie dennoch unterscheiden. Sie unterscheiden und beziehen sich wechselseitig von- und aufeinander wie „vorletzte“ und „letzte Dinge“. Das heißt: Die Aufgabe jeder Ethik, auch der christlichen, ist  eine gute und menschliche Gestaltung der Welt. Sie schließt unter dem Mandat und der Nachfolge Jesu Christi auch und gerade politisches Engagement ein, hat es aber nach Bonhoeffer nur mit dem „Vorletzten“ und Vorläufigen zu tun. Denn das „Letzte“ und Endgültige, was in jeder Ethik als das höchste Gut, als das letzte Ziel unseres Handelns vor Augen steht, ist allein Sache Gottes, nämlich die Rechtfertigung und Erlösung der sündigen Menschen zu ihrem Heil.

Dadurch werden überzogene Ansprüche auch an politisches Handeln heilsam relativiert. Denn es kann bei aller Wichtigkeit nicht das Höchste sein und darum auch keine überhöhte religiöse Bedeutung haben. Deswegen muss jeder totalitären Ideologie mit ihren verklärenden Heilsversprechen, die einen solchen Absolutheitsanspruch für sich offen oder verdeckt in Anspruch nimmt, jedem politischen oder religiösen Fundamentalismus, der die eigene Position oder das eigene Partei-Programm zum Letztgültigen und allein Seligmachenden erklärt, aber in Wahrheit nur die eigenen (Macht-) Interessen an die erste Stelle setzt, im Namen des christlichen Glaubens entschieden entgegen getreten werden. Weder Gott noch Jesus Christus, noch Bonhoeffers Theologie lässt sich für solche ideologischen Verdrehungen von vorletzten und letzten Dingen in Anspruch nehmen - schon gar nicht, wenn mit einem solchen Denken und Handeln menschenverachtende Ausgrenzungen (wir, die „Guten“, und die anderen, die „Bösen“; Insider und Outsider; West und Ost; Nord und Süd; weiß und schwarz etc.) mit ihren furchtbaren, ja oft auch tödlichen Konsequenzen verbunden sind. Ein „America first“ oder ein „Germany first“ oder was auch immer „first“, wie es gegenwärtig in manchen ultra-konservativen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantiks vertreten wird, lässt sich jedenfalls mit Bonhoeffer weder garnieren noch legitimieren. Und auch die allzu vollmundige, aber irreführende Rede von einem vermeintlichen „Bonhoeffer-Moment“ (E. Metaxas) im Sinne eines kulturkritischen „status confessionis“ ist ein Indiz einer mit Bonhoeffer gerade nicht zu begründenden Verwechslung von „vorletzten“ und „letzten“ Dingen, von „Nachfolge“ Christi mit einem anti-liberalen Parteiprogramm ohne Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen historischen Situation. Diagnosen eines „Bonhoeffer-Moments“ sind genauso wenig angebracht wie Deutungen aktueller pandemischer Krisen im Licht apokalyptischer Symbole und Zahlenspiele.     

Aber „vorletzte“ und „letzte“ Dinge beziehen auch aufeinander. Sie stehen durchaus in einem Verweisungszusammenhang, und dieses Verhältnis nennt Bonhoeffer „Wegbereitung“. Wie Johannes der Täufer für den Christus Jesus, so soll das „Vorletzte“ dem „Letzten“ den Weg bereiten. Demnach besteht die Aufgabe der christlichen Ethik im gesellschaftlichen wie politischen Engagement darin, das rechtfertigende und erlösende Handeln Gottes in Jesus Christus in der mit Gott versöhnten sündigen Welt verantwortlich darzustellen und kritisch zur Geltung zu bringen, damit das „Letzte“ im „Vorletzten“ deutlich werden kann. Deswegen ist die Welt und ihre ethisch-politische Gestaltung, der Umgang mit bestimmten Menschen und Menschengruppen, wie z. B. mit Juden, nicht gleichgültig, und deshalb darf man nach Bonhoeffer nicht die Welt sich selbst überlassen oder sie gar verachten. Darum muss man „nicht nur die Opfer unter dem Rad (…) verbinden, sondern dem Rad auch selbst in die Speichen (…) fallen“, wie es Bonhoeffer in seinem aufrüttelnden Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“ im April 1933 kritisch gegen eine vornehmlich nur an sich selbst denkende Kirche einprägsam formuliert hat. Nicht nur gegenüber einer selbstgefällig verblendeten Politik, sondern auch gegenüber Formen einer naiven, provinziellen Religiosität in seiner Kirche hatte er kritische Vorbehalte und Einsprüche, wenn vergessen wurde, dass Kirche - wie der Staat - immer „für andere“ da ist. Das wird dem jungen, urbanen Theologen Bonhoeffer mit seinen prägenden Auslandserfahrungen in Rom, Barcelona, London, New York und an vielen anderen Orten schnell klar. Darum setzte sich Bonhoeffer für die Ökumene ein.

Wenn nach Bonhoeffer die christliche Ethik nicht das Ziel haben kann, die alle („Christen und Heiden“) versöhnende Überwindung der Entzweiung der Menschen mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott herzustellen, wohl aber darzustellen, dann bedeutet das, dass menschliches Leben letztlich nicht das Produkt von Menschen ist, sondern Vorgabe Gottes. Darum kann das Leben - das eigene wie das der anderen - auch nicht der uneingeschränkten Verfügungsgewalt von Menschen unterstellt sein, wie es z. B. in totalitären politischen Systemen und Ideologien beabsichtigt wird. Hier ist immer im Namen Christi um der Versöhnung willen Widerstand zu leisten, aber ohne dass wir uns dabei auf ein vermeintliches Parteiprogramm Gottes berufen oder stützen könnten.

Denn wir müssen - gerade auch mit den religionskritischen Spitzen eines Friedrich Nietzsche im Rücken - in dieser Welt vor Gott ohne Gott leben. Diese Erfahrung steht im Hintergrund von Bonhoeffers Feststellung einer religionslosen Zeit und seines nicht zuletzt von Karl Barth angeregten, aber in kritischer Selbstständigkeit aufgenommenen Programms eines „religionslosen Christentums“ oder einer „nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe“. In Zeiten der Ferne und scheinbaren Ohnmacht Gottes müssen die Fragen nach Gott, Mensch und Welt - wie auch die Frage nach der Identität des je eigenen Ich - immer wieder neu gestellt werden. Aber sie können nicht eindeutig mit einem Rezept in der Tasche beantwortet werden, auch nicht unter Berufung auf ein „Gott hat gesagt…“ Eine ihrer selbst allzu gewisse „Wort Gottes“-Theologie steht nach Bonhoeffer in der Gefahr, die Menschen in ihren aktuellen Lebensfragen und Sorgen nicht mehr zu erreichen.

Wenn es so ist, dann kann es auch keine abstrakte Prinzipienethik geben, sondern nur eine geschichtlich wandelbare, erdverbundene, wirklichkeitsgemäße Situationsethik. Damit richtet sich Bonhoeffers theologische Aufmerksamkeit auf das Diesseits, auf das konkrete Hier und Jetzt des Alltäglichen und des Natürlichen. Denn die Kirche steht mitten im Dorf und nicht an den Rändern, und der christliche Glaube hat es in erster Linie mit dem gelebten Leben und nicht vordringlich oder gar ausschließlich mit den Grenzsituationen zu tun. In Bonhoeffers Situationsethik gilt daher kein Gebot prinzipiell, ausnahmslos, zeitlos und allgemein verpflichtend. Das verdeutlicht er am Beispiel von Wahrheit und Lüge in einer Schulklasse vor dem Hintergrund seiner Verhörerfahrungen in den Zimmern der Gestapo. Damit ist nicht ein „postfaktisches“ Spiel mit „fake news“ eröffnet oder legitimiert. Vielmehr ergeht hier der Appell, verantwortlich und couragiert wahrzunehmen, wer in welcher Situation wem und wann gegenüber berechtigt ist, die Wahrheit zu fordern, oder verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen. Zwar ist und bleibt die Lüge eine moralische Schuld. Aber in bestimmten Situationen fällt die Schuld der Lüge auf diejenigen zurück, die zu unrecht die Wahrheit fordern und damit eine höhere Wahrheit (wie in Bonhoeffers Beispiel die der Familie des Schuljungen) verletzen. Deswegen Bonhoeffers Überzeugung: „Unser Wort soll nicht prinzipiell, sondern konkret wahrheitsgemäß sein.“

Um aber eine solche riskante Situationsethik vor Willkür und Beliebigkeit zu schützen, gibt es nach Bonhoeffer Rahmenbedingungen und Grenzen, innerhalb derer das moralische Handeln Gestalt annehmen kann. Diese ethischen Orientierungsmarken bewahren die Situationsethik Bonhoeffers vor dem Abgleiten in haltlosen Relativismus. Sie verhindern, dass moralische Zweifel zu auswegloser Verzweiflung werden. Sie sorgen dafür, dass wir uns und unsere ethische Urteilskraft nicht durch blockierende Dauerreflexion überfordern. Das sind die von Bonhoeffer zusammen gestellten „Mandate“. Bonhoeffer zählt meistens vier Mandate auf, die er biblisch herleitet: Arbeit, Ehe / Familie, Staat und Kirche. Diese Mandate sind nun zwar „Aufträge“ Gottes und darum „göttlich“, aber sie sind dies nicht an und für sich, sondern nur in Bezug  (also nicht absolut, sondern relativ) auf Jesus Christus - so, wie für uns nach christlicher Überzeugung Gott auch nicht an und für sich zugänglich ist, sondern nur im Blick auf seine Offenbarung, seine Selbstmitteilung in Jesus Christus. Darum können und müssen sie auch, wenn auch nicht leichtfertig, immer wieder geprüft, kritisiert und verändert werden. Denn ein Mandat, ein Auftrag, ist nicht um seiner selbst willen da, sondern um eines anderen willen. Ein Mandat ist bloß Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Der Zweck aller Mandate ist vielmehr die Ermöglichung und der Schutz des Lebens selbst (entsprechend dem Jesus-Wort nach Mk 2,27: „Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbat willen“). Aber ob nun der Zeitpunkt für eine solche Kritik und Veränderung des Bestehenden gekommen ist, wenn es seinen Zweck nicht mehr angemessen erfüllt, dem Leben nicht mehr dient, kann nicht allgemein und mit Sicherheit erkannt und auch nicht für alle allgemein verbindlich von außen behauptet oder vorgeschrieben werden. Denn die Mandate sind weder in Stein gemeißelte Gebote noch Prinzipien, sondern Einweisungen in das situativ Konkrete im Bereich des „Vorletzten“. Hier kann nur jede und jeder einzelne aus der persönlichen Beziehung zu Gott in der „Nachfolge“ Jesu Christi zwischen Zweifel und Zuversicht urteilen und handeln.

Denn nach Bonhoeffer liegt auf allem menschlichen Handeln ein Schatten, und jede Entscheidung kann Schuld nach sich ziehen. Wohl aber gibt es ein der geschichtlichen oder biografischen Situation angemessenes Handeln jenseits von realitätsfernem Idealismus wie von einem bornierten Starren auf das Faktische. Dieses wirklichkeitsgemäße Handeln nimmt die Welt so, wie sie im Lichte Jesu Christi zu sehen ist, nämlich als „eine in ihrer Gottlosigkeit mit Gott versöhnte Welt.“ In dieser Perspektive vollzieht sich die „Einfalt des Tuns“ in der Nachfolge Jesu Christi. Damit ist nicht ein naives Ausblenden der komplexen Handlungsfolgen ohne jedes Reflexions- und Urteilsvermögen gemeint. Vielmehr ist „Einfalt“ eine theologisch-ethische Kategorie, die den Verzicht der Menschen meint, bei allen ethischen Fragestellungen und Problemen, die durchaus auf dem bestmöglichen Reflexionsniveau und mit sachgerechtem Verstand unter Beachtung aller möglichen Folgen angegangen werden sollen und können, nur nach dem eigenen Guten zu fragen, nach der eigenen Rechtfertigung und Seligkeit im zwiespältigen Gegenüber zu Gott anstatt nach dem vernünftig zu ermittelnden Nutzen und Wohl anderer. Ob und wie eine bestimmte, konkrete Situation in diesem Sinne im „Vorletzten“ ethisch verantwortlich bewältigt werden kann, ist und bleibt daher ein Wagnis zwischen selbstkritischem Zweifel auch an der moralischen oder politischen Qualität des eigenen Handelns und getrösteter Zuversicht im Blick auf das versöhnende Handeln Gottes in Jesus Christus.

Prof. Dr. Hartmut Rosenau

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