Heute gibt es wieder Bösewichter und Heilige, und zwar in
aller Öffentlichkeit. Aus dem Grau in Grau des schwülen
Regentages ist die schwarze Wolke und der helle Blitz des Gewitters
geworden. Die Konturen sind überscharf. Die Wirklichkeit
enthüllt sich. Die Gestalten Shakespeares gehen um. Der
Bösewicht und der Heilige aber haben wenig oder nichts mit
ethischen Programmen zu tun, sie steigen aus Urgründen empor,
sie reißen mit ihrem Erscheinen den höllischen und den
göttlichen Abgrund auf, aus dem sie kommen und lassen uns in
nie geahnte Geheimnisse kurze Blicke tun. Schlimmer als die
böse Tat ist das Böse-sein. Schlimmer ist es, wenn ein Lügner
die Wahrheit sagt, als wenn ein Liebhaber der Wahrheit lügt,
schlimmer wenn ein Menschenhasser Bruderliebe übt als wenn
ein Liebhaber der Menschen einmal vom Haß überwältigt wird.
Besser als die Wahrheit im Munde des Lügners ist noch die
Lüge, besser als die Tat der Bruderliebe des Menschenfeindes
ist der Haß. Es ist also nicht die eine Sünde wie die andere. Sie
haben verschiedenes Gewicht. Es gibt schwerere und leichtere
Sünde. Der Abfall wiegt unendlich viel schwerer als der Fall.
Die glänzendsten Tugenden des Abgefallenen sind nachtschwarz
gegen die dunkelsten Schwächen der Treuen.
Quelle:
Ethik, DBW Band 6,
Seite 62 f