Der Psalter nimmt eine einzigartige Stellung im Ganzen
der Heiligen Schrift ein. Er ist Gottes Wort, und er ist
zugleich, bis auf wenige Ausnahmen, Gebet des Menschen.
Wie ist das zu verstehen? Wie kann Gottes Wort zugleich
Gebet zu Gott sein? Zu dieser Frage tritt eine Beobachtung
hinzu, die jeder macht, der anfängt die Psalmen zu beten. Er
versucht zunächst, sie persönlich als sein eigenes Gebet nachzusprechen.
Bald stößt er dabei auf Stellen, die er von sich aus, als
sein persönliches Gebet nicht glaubt beten zu können. Wir
denken etwa an die Unschuldspsalmen, an die Rachepsalmen,
teilweise auch an die Leidenspsalmen. Dennoch sind diese
Gebete Worte der Heiligen Schrift, die er als gläubiger Christ
nicht mit billigen Ausreden als überholt, veraltet, als »religiöse
Vorstufe« abtun kann. Er will also das Wort der Schrift nicht
meistern und erkennt doch, daß er diese Worte nicht beten
kann. … Das Psalmengebet, das uns nicht über die Lippen will,
vor dem wir stocken und uns entsetzen, läßt es uns ahnen, daß
hier ein Anderer der Beter ist, als wir selbst, daß er, der hier
seine Unschuld beteuert, der Gottes Gericht herbeiruft, der in
so unendlich tiefes Leiden gekommen ist, kein anderer ist – als
Jesus Christus selbst.
Quelle:
Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel, DBW Band 5,
Seite 38 f