Mißbrauch des stellvertretenden Lebens

Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in
der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den
anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich und
das heißt nur der Selbstlose lebt. Wo das göttliche Ja und Nein
im Menschen eins werden, dort wird verantwortlich gelebt. Die
Selbstlosigkeit in der Verantwortung ist eine so restlose, daß
hier das Goethesche Wort von dem Handelnden, der immer
gewissenlos ist, seinen rechten Ort bekommt. Einen Mißbrauch
des stellvertretenden Lebens droht von zwei Seiten: durch die
Absolutsetzung des eigenen Ich wie durch die Absolutsetzung
des anderen Menschen. Im ersten Fall führte das Verhältnis
der Verantwortung zu Vergewaltigung und Tyrannei. Dabei ist
verkannt, daß nur der Selbstlose verantwortlich handeln kann.
Im zweiten Fall wird das Wohl des anderen Menschen, dem ich
verantwortlich bin, unter Mißachtung aller anderen Verantwortlichkeiten
absolut gesetzt, und es entsteht eine Willkür
des Handelns, die der Verantwortung vor Gott, der in Jesus
Christus aller Menschen Gott ist, spottet. In beiden Fällen ist
Ursprung, Wesen und Ziel des verantwortlichen Lebens in
Jesus Christus geleugnet und die Verantwortung zu einem
selbstgemachten abstrakten Götzen geworden.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 258

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