Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen?

Man muß damit rechnen, daß die meisten Menschen nur
durch Erfahrungen am eigenen Leibe klug werden. So
erklärt sich erstens die erstaunliche Unfähigkeit der meisten
Menschen zu präventivem Handeln jeder Art – man glaubt
eben selbst immer noch, um die Gefahr herumzukommen, bis
es schließlich zu spät ist; zweitens die Stumpfheit gegenüber
fremdem Leiden; proportional mit der wachsenden Angst vor
der bedrohlichen Nähe des Unheils entsteht das Mitleid. …
Christus – so sagt die Schrift – erfuhr alles Leiden aller Menschen
an seinem Leibe als eigenes Leiden – ein unbegreiflich
hoher Gedanke! –, er nahm es auf sich in Freiheit. Wir sind
gewiß nicht Christus und nicht berufen, durch eigene Tat und
eigenes Leiden die Welt zu erlösen, wir sind nicht Herren,
sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte, wir
können das Leiden anderer Menschen nur in ganz begrenztem
Maße wirklich mitleiden. Wir sind nicht Christus, aber wenn
wir Christen sein wollen, so bedeutet das, daß wir an der Weite
des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher
Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr
stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst,
sondern aus der befreienden und erlösenden Liebe Christi zu
allen Leidenden quillt. Tatenloses Abwarten und stumpfes
Zuschauen sind keine christlichen Haltungen.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Widerstand und Ergebung
, DBW Band 8, Seite 33 f

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