Die offene Christusfrage

Gottes Ja und Gottes Nein zur Geschichte, wie es in der
Menschwerdung und Kreuzigung Jesu Christi vernommen
wird, bringt in jeden geschichtlichen Augenblick eine unendliche
nicht aufzuhebende Spannung. Die Geschichte wird nicht
zum vergänglichen Träger ewiger Werte, sondern sie wird durch
Leben und Sterben Jesu Christi erst recht zeitlich. Gerade in
ihrer Zeitlichkeit ist sie von Gott bejahte Geschichte. Die
Frage nach dem geschichtlichen Erbe ist also nicht die zeitlose
Frage nach den ewig gültigen Werten der Vergangenheit. Vielmehr
gibt sich hier der selbst in die Geschichte gestellte Mensch
Rechenschaft von der Gegenwart, wie sie von Gott in Christus
angenommen ist. … Der geschichtliche Jesus Christus ist die
Kontinuität unserer Geschichte. Weil aber Jesus Christus der
verheißene Messias des israelitisch- jüdischen Volkes war, darum
geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu
Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte
ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unlöslich verbunden,
nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher
Begegnung. Der Jude hält die Christusfrage offen. … Eine
Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung
Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 94 f

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