Die gekreuzigte Wahrheit

Gott ist die Wahrheit und kein anderer. Und wir fürchten
uns vor ihm, daß er uns plötzlich ins Licht der Wahrheit
stellt und uns in unserer Lügenhaftigkeit entlarvt. …
Wir wehren uns gegen die Behauptung, es sei nicht nur viel
Lüge um uns herum und in uns, sondern wir selbst seien die
Erzlügner. Und wir müssen uns dagegen wehren, so lange bis etwas
ganz Unerwartetes geschieht, nämlich so lange, bis Gott
selbst als die Wahrheit uns begegnet und nun selbst tut, was wir
nicht tun können, nämlich uns die Wahrheit vor sich stellt. …
Und nun geschieht etwas, über das wir keine Macht mehr haben
– nun geschieht die Wahrheit. Sie tritt uns entgegen in seltsamer
Gestalt, nicht in strahlender, unnahbarer Herrlichkeit
und leuchtender, herzbezwingender Klarheit, sondern als die
gekreuzigte Wahrheit, als der gekreuzigte Christus. Und die
Wahrheit redet zu uns. Sie fragt uns: Wer hat mich, die Wahrheit,
gekreuzigt? Und sie antwortet schon im selben Augenblick:
Sieh her, das hat du getan. Du hast die Wahrheit Gottes
über dich gehaßt. Du hast sie gekreuzigt und du hast deine
eigene Wahrheit aufgerichtet. Du hast gemeint, du wüßtest die
Wahrheit, du besäßest sie, du könntest die Menschen mit der
Wahrheit beglücken. Und du hast dich dadurch zum Gott
gemacht. Du hast Gott seine Wahrheit geraubt und sie wurde
in der Ferne Gottes zur Lüge.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ökumene, Universität, Pfarramt 1931-1932
, DBW Band 11, Seite 458 f

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