Was ist Gnade?

Das Böse, Sündige, Gemeine ist übermächtig in uns, und
wir bleiben in seinem Bann, solange wir leben – und wir
würden am Guten, am Heiligen, an uns selbst und an Gott verzweifeln,
wenn uns nicht das Wort gegeben wäre: Laß dir an
meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen
mächtig (2 Korinther 12, 9). Damit ist es also klar, daß uns die
Religion nicht die Erfüllung dessen gibt, was die Welt versagt,
daß die Religion nicht Glückstifterin auf Erden ist. Nein, mit
der Religion ist das Unglück, die Unruhe, die Entsagung in der
Welt mächtig geworden. Laß dir an meiner Gnade genügen.
Was ist Gnade? Sie ist etwas unanschauliches, was wir in unserem
Leben nicht unmittelbar zu spüren bekommen, im Gegenteil,
sie ist etwas durch und durch unwahrscheinliches, unglaubwürdiges
nach dem zu urteilen, was wir hier erleben. Sie
redet von einem Geschehen jenseits aller Welt und will uns
von unserer eigenen Welt hinwegziehen zu jener hin. Ein
dunkler Abgrund tut sich auf, und eine Stimme befiehlt, spring
hinüber, ich nehme dich auf; ich halte dich fest; ich strecke
meine Hand aus, nun wag dein Leben daran, verlaß dich auf
mich, und auf nichts anderes. Meine Gnade genügt dir; ich bin
die Liebe, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist
mein (Jesaja 55, 8).

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931
, DBW Band 10, Seite 509

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