Die Zucht der Zunge

Wo die Zucht der Zunge geübt wird (Epheser 4,29), dort
wird jeder Einzelne eine unvergleichliche Entdeckung
machen. Er wird aufhören können den andern unaufhörlich zu
beobachten, ihn zu beurteilen, ihn zu verurteilen, ihm sein
bestimmten beherrschbaren Platz zuzuweisen und ihm so
Gewalt zu tun. Er kann ihn ganz frei stehen lassen, so wie Gott
ihn ihm gegenübergestellt hat. Der Blick weitet sich und er
erkennt zu seinem Erstaunen zum ersten Mal den Reichtum
der Schöpferherrlichkeit Gottes. Gott hat den andern nicht
gemacht, wie ich ihn gemacht hätte. … In seiner geschöpflichen
Freiheit wird mir nun der Andere Grund zur Freude,
während er mir vorher nur Mühe und Not war. Gott will nicht,
daß ich den Andern nach dem Bilde forme, das mir gut erscheint,
also nach meinem eigenen Bilde, sondern in seiner
Freiheit von mir hat Gott den Andern zu seinem Ebenbilde gemacht.
Ich kann es niemals in Voraus wissen, wie Gottes Ebenbild
im Andern aussehen soll, immer wieder hat es eine ganz
neue, allein in Gottes freier Schöpfung begründete Gestalt. …
Die ganze Verschiedenartigkeit der Einzelnen wird in der Gemeinschaft
nicht mehr Grund zum Reden, Richten, Verdammen,
also zur Selbstrechtfertigung sein, sondern sie wird Grund
zur Freude aneinander.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel
, DBW Band 5, Seite 79

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