Empfindungen müssen lebendig bleiben

In der letzten Zeit hat mich auch oft die Frage beschäftigt
wie sich das, was man gewöhnlich Abstumpfen gegen
schwere Eindrücke im Laufe einer längeren Zeit nennt, eigentlich
erklärt. … Die Antwort, daß das ein Selbstschutz der Natur
sei, reicht mir nicht aus; ich glaube vielmehr, daß es sich dabei
auch um ein klareres, nüchterneres Erfassen der eigenen begrenzten
Aufgaben und Möglichkeiten und dadurch um die
Ermöglichung wirklicher Liebe zum Nächsten handeln kann.
Solange die Phantasie erregt und aufgepeitscht ist, bleibt die
Liebe zum Nächsten etwas sehr Vages und Allgemeines. Heute
kann ich die Menschen, ihre Not und ihre Hilfsbedürftigkeit
ruhiger ansehen und ihnen damit besser dienen. Statt von
Abstumpfung würde ich lieber von Abklärung sprechen; aber
natürlich bleibt es immer wieder eine Aufgabe, das eine in das
andere zu verwandeln. Aber Selbstvorwürfe darüber, daß die
Empfindungen im Laufe der Zeit nicht mehr so erhitzt und angespannt
sind, braucht man sich in solchen Situationen, glaube
ich, nicht zu machen. Allerdings muß man sich der Gefahr immer
bewußt bleiben, daß man das Ganze nicht aus den Augen
verliert, und auch unter der Abklärung müssen starke Empfindungen
lebendig bleiben.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Widerstand und Ergebung
, DBW Band 8, Seite 398

Gedanken zum 24. Juli

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