Das Gute, Vorstufe des Christlichen

Im berechtigten Affekt gegen eine bürgerliche Saturiertheit,
der das Gute einfach als Vorstufe des Christlichen galt,
wobei der Aufstieg vom Guten zum Christlichen sich mehr
oder weniger ohne Bruch vollziehen sollte, – im Protest gegen
diese bequeme Verkehrung des Evangeliums ist uns eine ebenso
gefährliche Entstellung des Evangeliums im umgekehrten Sinne
mit großer Leidenschaft vorgetragen worden. An die Stelle der
Rechtfertigung des Guten ist die Rechtfertigung des Bösen getreten.
An der Stelle der Idealisierung des Bürgerlichen gefiel
man sich in der Idealisierung des Unbürgerlichen, des Ordnungswidrigen,
des Chaotischen, des Anarchischen, des Katastrophalen;
die göttlich verzeihende Liebe Jesu zu der großen
Sünderin, zu der Ehebrecherin, zum Zöllner wurde verzerrt zu
einer – psychologisch oder politisch motivierten – christlichen
Sanktionierung der unbürgerlichen »Randexistenzen« der
Prostituierten und des Vaterlandsverräters. Aus dem Evangelium
der Sünder, um dessen Gewalt es ging, war, ohne daß man
es wollte, eine Empfehlung der Sünde geworden. Das Gute – in
seinem bürgerlichen Sinne – verfiel dem Gelächter.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 352 f

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