Wie schauen wir Gott?

Wir alle kennen die Stunden unseres Lebens, in denen
wir überdrüssig wurden an uns selbst, in denen wir uns
selbst zum Ekel waren, in denen uns die ganze Jämmerlich- und
Schwächlichkeit unserer Lebensführung vor Augen trat. …
Und es ist der Segen solcher Stunden, daß in ihnen die Sehnsucht
durchbricht nach dem Angesicht Gottes, nach dem
Schauen Gottes (Psalm 42, 3). Wer diese Stunden nicht kennt,
wer diese Sehnsucht nicht kennt, der wird nicht viel von dem
verstehen, was Jesus uns heute zu sagen hat. Wie nun der einzelne
Mensch, so erlebt die ganze Welt Stunden in denen sie
schreit nach dem Angesicht Gottes aus der Gottlosigkeit und
der Gottverlassenheit. Das ganze alte Judentum ist ein einziger
solcher Schrei: wie komme ich dahin, daß ich Gottes Angesicht
schaue. Sokrates und Plato, Kant und deutsche Philosophie,
sie alle stimmen ein in den Ruf. Und auch durch unsere
Tage hallt wieder die alte Frage: wie schauen wir Gott. … In
diese Fragen tritt hinein das Wort Jesu: Selig sind, die reines
Herzens sind; denn sie werden Gott schauen (Matthäus 5, 8).
Nichts, gar nichts anderes ermächtigt uns Gott zu schauen, als
ein reines Herz, als die Reinheit unseres Wesens.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931
, DBW Band 10, Seite 494 f

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