Wer ist denn mein Nächster?

Die Frage: Wer ist denn mein Nächster (Lukas 10, 29)? ist die
letzte Frage der Verzweiflung oder Selbstsicherheit, in der
der Ungehorsam sich rechtfertigt. Die Antwort ist: Du selbst
bist der Nächste. Geh hin und sei gehorsam in der Tat der
Liebe. Nächster zu sein, ist nicht eine Qualifikation des Anderen,
sondern ist sein Anspruch an mich, sonst nichts. In jedem
Augenblick, in jeder Situation bin ich der zum Handeln, zum
Gehorsam Geforderte. Es ist buchstäblich keine Zeit dafür
übrig, nach einer Qualifikation des Anderen zu fragen. Ich muß
handeln und muß gehorchen, ich muß dem Anderen der Nächste
sein. Fragst du abermals erschreckt, ob ich denn nicht vorher
wissen und bedenken müsse, wie ich zu handeln habe, – so
gibt es darauf nur die Auskunft, daß ich das nicht anders wissen
und bedenken kann, als indem ich eben immer schon handle,
indem ich mich selbst immer schon als den Geforderten weiß.
Was Gehorsam ist, lerne ich allein im Gehorchen, nicht durch
Fragen. Erst im Gehorsam erkenne ich die Wahrheit. Aus dem
Zwiespalt des Gewissens und der Sünde trifft uns der Ruf Jesu
zur Einfalt des Gehorsams. Aber der reiche Jüngling wurde von
Jesus in die Gnade der Nachfolge gerufen (Markus 10, 21), der
versucherische Schriftgelehrte wird zurückgestoßen ins Gebot
(Lukas 10, 25-37).

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Nachfolge
, DBW Band 4, Seite 67

Gedanken zum 24. September

Leben und Werk

Bonhoeffer heute

Forschung

ibg