Es ist das größte Mißverständnis, wenn man die Gebote der
Bergpredigt etwa selbst wieder zum Gesetz macht, indem
man sie wörtlich auf die Gegenwart bezieht. Das ist nicht nur
sinnlos, weil undurchführbar, sondern erst recht gegen den
Geist Christi, der die Freiheit vom Gesetz brachte. Es gibt im
Neuen Testament keine ethische Vorschrift, die wir buchstäblich
zu übernehmen hätten oder auch nur übernehmen könnten.
Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig, sagt bekanntlich
Paulus (2 Korinther 3, 6); das bedeutet: Geist gibt es nur
im Vollzug des Handelns, in der Gegenwart, der festgelegte
Geist ist kein Geist mehr. So gibt es auch Ethik nur im Vollzug
der Tat, nicht in Buchstaben, d. h. im Gesetz. Der Geist aber der
im ethischen Handeln an uns wirksam ist, soll der Heilige Geist
sein. Heiligen Geist gibt es nur in der Gegenwart, in der ethischen
Entscheidung, nicht in der festgesetzten Moralvorschrift,
im ethischen Prinzip. Darum können die neuen Gebote Jesu
niemals als neue ethische Prinzipien aufgefaßt werden, sie sind
in ihrem Geist nicht buchstäblich zu verstehen. Und das ist
keine Ausrede, weil die Sache sonst zu unbequem wäre, sondern
die Idee der Freiheit und der Gottesgedanke Jesu fordert das.
Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10,
Seite 332 f