Die Liebe ist langmütig

Es gibt keinen Menschen, der ohne Liebe lebt. Jeder
Mensch hat Liebe, er weiß um ihre Macht und um ihre
Leidenschaft. Er weiß sogar, daß diese Liebe den ganzen Sinn
seines Lebens ausmacht. … Diese Liebe aber, um deren Macht,
Leidenschaft und Sinn jeder Mensch weiß, ist die Liebe des
Menschen zu sich selbst. … Die Selbstliebe spielt sich auf als
Nächstenliebe, als Vaterlandsliebe, als soziale Liebe, als Menschenliebe,
und will nicht erkannt sein. Paulus zwingt die
Selbstliebe zur Verantwortung, indem er vor ihr, vor uns das
Bild der Liebe entwirft, die vor Gott gilt. … »und freundlich … (1 Korinther 13, 4-7) d. h. die Liebe kann
warten, lange warten, bis zum Letzten warten. Sie wird nie
ungeduldig, sie will nichts übereilen und erzwingen. Sie rechnet
mit langen Zeiträumen. Warten, Geduld haben, weiter
lieben und freundlich sein, auch wo es gänzlich fehlzuschlagen
scheint – das allein überwindet Menschen, das allein löst die
Fesseln, die jeden Menschen ketten, die Fesseln der Menschenfurcht
und der Angst vor einem Umbruch, vor einem neuen
Leben. Freundlichkeit – das scheint oft so gänzlich unangebracht
zu sein – aber die Liebe ist langmütig und freundlich – sie
wartet, wie man auf einen, der sich verirrt und verlaufen hat,
wartet und sich freut, wenn er überhaupt noch kommt.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
London 1933-1935
, DBW Band 13, Seite 387ff

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