Die Liebe will klare Verhältnisse

Die Liebe trägt nicht nach. Sie tritt dem anderen jeden Tag
neu und mit neuer Liebe gegenüber und vergißt, was dahinten
liegt – sie macht sie damit zum Spott der Menschen,
zum Narren – und sie wird auch dadurch nicht irr – sondern sie
fährt fort zu lieben.
Ist sie denn gleichgültig gegen Recht und Unrecht? Nein, sie
freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der
Wahrheit. Sie will die Dinge sehen, wie sie sind. Sie will lieber
Haß und Unrecht und Lüge klar sehen als allerlei Masken der
Liebenswürdigkeit, die doch wieder den Haß nur noch verbirgt
und noch häßlicher macht. schaffen und sehen, sie freut sich der Wahrheit – denn nur in
der Wahrheit kann sie aufs neue lieben.
… sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles
(1 Korinther 13, 4). Auf das alles kommt es hier an; es ist kompromißlos
gemeint – alles heißt hier wirklich alles – auch wir sagen
vielleicht einmal in einem großen Augenblick – alles tue ich
für dich, alles lasse ich für dich, alles trage ich mit dir – wobei
wir doch immer die eine große stillschweigende Voraussetzung
machen: wenn du es ebenso mit mir hältst. Diese Voraussetzung
kennt die Liebe nicht. Ihr Alles hat keine Bedingung – es ist
bedingungslos alles.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
London 1933-1935
, DBW Band 13, Seite 390 f

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