Meine Seele ist stille zu Gott (Psalm 62, 2). Wie ein Lied aus
alten Zeiten, wie ein mittelalterliches Bild, auf Goldgrund
gemalt, wie Erinnerung an Kindertage klingt das wunderliche,
uns so fremd gewordene Wort von der Seele. Gibts denn
auch für unsere Tage noch so etwas wie Seele, in der Zeit der
Maschinen, des Wirtschaftskampfes, der Herrschaft der Mode
und des Sports; ist’s nicht nur eine liebe Kindererinnerung, wie
so manches andere. Es klingt halt so wunderlich und absonderlich
zu dem Gewirr und Geschrei der Stimmen, die sich anpreisen,
das Wörtchen Seele; es hat so eine leise, stille Sprache,
daß wir’s kaum mehr hören über dem Toben und Tosen in unserem
Inneren. Aber es hat eine Sprache voll größter Verantwortung
und tiefstem Ernstes: du, Mensch, hast eine Seele; schau,
daß du sie nicht verlierst, daß du nicht eines Tages vom Taumel
des Lebens – des Beruflebens und des Privatlebens – erwachst –
und sehen mußt, daß du innerlich hohl geworden bist, ein
Spielball der Ereignisse, ein Blatt vom Winde hin- und hergetrieben
und verweht – daß du ohne Seele bist. Mensch hab
acht auf deine Seele; was sollen wir sagen von jener Seele: sie
ist das Leben, das Gott uns gegeben hat; sie ist das, was Gott
an uns geliebt hat, was er aus seiner Ewigkeit heraus angerührt
hat, sie ist die Liebe in uns und die Sehnsucht und die heilige
Unruhe und die Verantwortung und die Fröhlichkeit und der
Schmerz, sie ist göttlicher Odem gehaucht in vergängliches
Wesen. Mensch, du hast eine Seele.
Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10,
Seite 479 f