Die doppelte Täuschung

Wir unchristlich lebenden und denkenden Menschen von
heute, haben uns mit einer doppelten Täuschung über
unser Leben abgefunden, die es uns ermöglicht, mit einer
gewissen Ruhe unser Leben zu führen. Die erste Täuschung
besteht darin, daß wir meinen, das Vergangene, Geschehene,
von uns Getane, versinke in den dunklen Abgrund der Vergessenheit
und sei dadurch, daß wir und andere es mehr oder
weniger vergessen haben, überhaupt vergessen. Mit anderen
Worten: Wir leben in dem Glauben an die letzte, stärkste
Macht des Vergessens. Ewigkeit heißt vergessen! Die zweite
Täuschung, von der wir leben, ist die, daß wir Verborgenes und
Offenbares, Geheimes und Öffentliches unterscheiden zu können
meinen. Wir führen ein öffentliches, sichtbares, offenbares
Leben und völlig daneben ein verborgenes, geheimes Leben
von Gedanken, Empfindungen, Hoffnungen, die kein anderer
Mensch je erfährt, und es würde uns ein lähmender Schrecken
überfallen, wenn wir wüßten, daß all unsere Gedanken und
Empfindungen, die wir nur an einem Tag gehabt haben, auf
einmal offen vor jedermann sichtbar lägen. Wir leben unter der
selbstverständlichen Voraussetzung, daß Verborgenes verborgen
bleibt. … Ewigkeit ist nicht vergessen, sondern Ewigkeit ist
Gedächtnis, ewiges Gedächtnis. … Die Alten prägten dafür
das Bild vom Buch des Lebens, in dem unser Leben eingezeichnet
ist.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
London 1933-1935
, DBW Band 13, Seite 321 f

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