Verlorenes Denken

Ihr seid gestorben« (Kolosser 3, 3), sagt der Apostel, und er
weiß es wohl: Wenn es wirklich wahr ist, daß es mit unserem
Leben und Sterben nichts ist vor Gott, dann ist es auch
nichts mit unserem Denken. Dann können wir uns tausendmal
Gedanken darüber machen, wie viel schöner und schlichter
und erbaulicher es wäre, einen Gott zu haben, an dem wir
nicht verloren gehen könnten – so würden doch diese tausend
Gedanken in die Irre gehen. Wenn es denn wahr ist, daß wir
gestorben sind, so müssen wir uns schon dies, daß wir gestorben
sind, von Gott selber sagen lassen. Denn ein verlorenes
Denken weiß auch nichts von seiner Verlorenheit. Weder der
Apostel Paulus noch wir wüßten etwas von dieser Todeslinie,
von dieser Grenze, von dieser Verlorenheit, wenn Gott nicht
selbst uns all dies kundtun würde. Gott selbst redet mit uns,
Gott selbst kommt zu uns, Gott selbst tut uns unsere Verlorenheit
kund. Aber wenn er das tut, dann ist der ja auch schon
bei uns, den wir verloren haben; dann ist uns ja auch längst
geholfen; da spottet Gott ja dieser unserer ganzen Verlorenheit;
da triumphiert Gott über alles, was uns von ihm scheiden
könnte. Da hat seine Liebe uns zu sich gezogen und keine
Macht der Welt vermag uns aus seiner Hand zu reißen.
Dies unbegreiflich Wunderbare will uns der Apostel sagen.
Ihr seid gestorben, das sagt er uns nicht, um uns zu quälen,
nicht um uns in Betrübnis zu stürzen, sondern einzig und allein
darum, weil er in einem Atemzuge fortfahren kann: »Und euer
Leben ist verborgen mit Christus in Gott«.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ökumene, Universität, Pfarramt 1931-1932
, DBW Band 11, Seite 451

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