Ein neues Lied

Tolstoi hat einmal gesagt, der Zar müsse verbieten, daß
Beethoven von guten Menschen gespielt werden dürfe, er
errege die Leidenschaften der Menschen zu tief und gefährde
die Menschen.
Luther hat andererseits oft gesagt, daß die Musik nächst dem
Wort Gottes das Beste sei, was der Mensch habe. Sie haben
beide etwas Verschiedenes im Auge, Tolstoi jene Musik zu
Ehren des Menschen, Luther diese Musik zur Ehre Gottes.
Und von ihr wußte Luther, daß sie unendlich viel Tränen
getrocknet, betrübte fröhlich gemacht, Begierden gestillt,
Niedergeschlagene aufgerichtet, Angefochtene gestärkt hat,
daß sie auch manchen verstockten Herzen wieder die Tränen
abgezwungen und manche großen Sünder zur Buße vor Gottes
Güte getrieben hat.
Singet dem Herrn ein neues Lied (Psalm 98, 1). Auf diesem Wort
neu liegt der Ton. Was ist dies neue Lied anders als das Lied, das
den Menschen neu macht, das Lied, das aus dem Menschen
nach Dunkelheit und Sorge und Angst hervorbricht zu neuer
Hoffnung, neuem Glauben, neuem Vertrauen? Das neue Lied
ist das Lied, das Gott selbst neu in uns erweckt – und ob es ein
uraltes Lied wäre – der Gott, der – wie es bei Hiob heißt – »sich
Lobgesänge schafft mitten in der Nacht« (Hiob 35, 10).

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
London 1933-1935
, DBW Band 13, Seite 355 f

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