Warten ist eine Kunst

Advent feiern heißt warten können; Warten ist eine
Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie
will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprößling
setzte; aber die gierigen Augen werden nur allzuoft betrogen,
indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün
ist, und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was
ihnen so Enttäuschung brachte. Wer nicht die herbe Seligkeit
des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der
wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.
Wer nicht weiß, wie es einem zumute ist, der bange ringt mit
den tiefsten Fragen des Lebens, seines Lebens, und wartend,
sehnend ausschaut bis sich die Wahrheit ihm entschleiert, der
kann sich nichts von der Herrlichkeit dieses Augenblicks, in
dem die Klarheit aufleuchtet träumen, und wer nicht um die
Freundschaft, um die Liebe eines anderen werben will, wartend
seine Seele aufschließt der Seele des anderen, bis sie kommt, bis
sie Einzug hält, dem bleibt der tiefste Segen eines Lebens zweier
Seelen ineinander für ewig verborgen.
Auf die größten, tiefsten, zartesten Dinge in der Welt müssen
wir warten, da gehts nicht im Sturm, sondern nach den göttlichen
Gesetzen des Keimens und Wachsens und Werdens.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931
, DBW Band 10, Seite 529

Gedanken zum 5. Dezember

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