Ein unweihnachtlicher Gedanke

Warten kann nicht jeder: nicht der gesättigte, zufriedene
und nicht der respektlose. Warten können nur Menschen,
die eine Unruhe mit sich herumtragen, und Menschen,
die zu dem Größten in der Welt in Ehrfurcht aufblicken. So
könnte Advent nur der feiern, dessen Seele ihm keine Ruhe
läßt, der sich arm und unvollkommen weiß und der etwas ahnt
von der Größe dessen, was da kommen soll, vor dem es nur gilt,
sich in demütiger Scheu zu beugen, wartend bis er sich zu uns
neigt – der Heilige selbst, Gott im Kind in der Krippe. Gott
kommt, der Herr Jesus kommt, Weihnachten kommt, Freu dich
o Christenheit! … Wenn die alte Christenheit vom Wiederkommen
des Herrn Jesus redete, so dachte sie zunächst immer
an einen großen Gerichtstag. Und so unweihnachtlich uns dieser
Gedanke erscheinen mag, er ist urchristlich und überaus
ernst zu nehmen. …Das Kommen Gottes ist wahrhaftig nicht
nur Freudenbotschaft, sondern zunächst eine Schreckensnachricht
für jeden der ein Gewissen hat. Und erst, wenn wir den
Schrecken der Sache empfunden haben, können wir die unvergleichliche
Wohltat erkennen. Gott kommt, mitten hinein in
das Böse, in den Tod und richtet das Böse in uns und in der
Welt. Und indem er es richtet, liebt er uns, reinigt er uns,
heiligt er uns, kommt er zu uns mit seiner Gnade und Liebe.
Er macht uns froh, wie nur Kinder froh sein können.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931
, DBW Band 10, Seite 529, 530, 531, 532

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