Jesus, der Mensch („schlechthin“) - Eine Anmerkung zu Dietrich Bonhoeffers theologischem Testament vom 21. Juli 1944 (von Dr. Bernd Vogel)
Wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden des 21. Juli 194 schrieb Dietrich Bonhoeffer an seinen Freund Eberhard Bethge:
„Lieber Eberhard!
Heute will ich Dir nur so einen kurzen Gruß schicken. Ich denke, Du wirst in Gedanken so oft und viel hier bei uns sein, daß Du Dich über jedes Lebenszeichen freust, auch wenn das theologische Gespräch einmal ruht. Zwar beschäftigen mich die theologischen Gedanken unablässig, aber es kommen dann doch auch Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen läßt.
Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages, wie ich mich z. B. an der gestrige und heutigen besonders freue, und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardtliedern zurück und ist froh über diesen Besitz. Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus – im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer – Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat. Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, dass er es geworden ist –); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen.
Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das Ende dieses Weges schrieb ich wohl die ‚Nachfolge‘. Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metánoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ. (Vgl. Jerem 45!).
Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet? Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es so kurz sage. Ich bin dankbar, daß ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, daß ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich an Vergangenes und Gegenwärtiges.
– Vielleicht wunderst Du Dich über einen so persönlichen Brief. Aber, wenn ich einmal so etwas sagen möchte, wem sollte ich es sonst sagen? Vielleicht kommt die Zeit, in der ich auch zu Maria einmal so sprechen kann; ich hoffe es sehr. Aber noch kann ich ihr das nicht zumuten. – Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor alle führe er uns zu sich. – Ich habe mich ganz besonders über den Gruß von Dir gefreut und bin froh, daß Ihr es nicht zu heiß habt. Von mir müssen noch viele Grüße zu Dir kommen. Sind wir eigentlich nicht 1936 ungefähr diese Strecke gefahren? – Leb wohl, bleibe gesund und laß die Hoffnung nicht sinken, daß wir uns bald alle wiedersehen. In Treue und Dankbarkeit denkt immer an Dich
Dein Dietrich“ (DBW 8, 541–543)
Dieser Brief darf als das theologische Testament Dietrich Bonhoeffers gelten. Es verbindet eine zutiefst persönliche Note im biografischen Rückblick mit der spezifischen Endgültigkeit und Zukunftsbezogenheit des Testamentarischen.
Jeder Satz, jedes Wort, die ganze Konstruktion des Briefes in seiner Semantik wie in seiner makellosen Form, ist komplex. Was einfach und klar formuliert und zunächst unmittelbar verständlich erscheint, weist in eine Tiefe, die einen erschaudern lassen kann. Hier geht es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein, theologisch um eine „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist“.
Hier nimmt sich ein Mensch zusammen und drückt aus, was ihm im Leben und Sterben letztlich wichtig ist und bleiben soll. Der Brief bietet fast unerschöpflich Ansatzpunkte, um von dort in Bonhoeffers gesamtes Leben und Lebenswerk einzusteigen und zu fragen, ob und was das denn nun für uns heute bedeuten könnte...