Predigt zum Altjahresabend

Predigt über das Lied „Von guten Mächten still und treu umgeben“ von Dietrich Bonhoeffer am Altjahrsabend

Gnade sei mit euch…

Liebe Gemeinde,

zum Ende des alten Jahres möchte ich eine etwas andere Predigt als gewohnt halten. Es soll in der folgenden Liedpredigt um Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ gehen, dessen Strophen wir während der Predigt nacheinander gemeinsam singen wollen. Bonhoeffer hat das Gedicht im Dezember 1944 im Gefängnis als Gruß eines Todgeweihten an seine Verlobte und seine Eltern zu Weihnachten und zum neuen Jahr geschrieben.

1. Wie wurde Dietrich Bonhoeffer zum Dichter?

Dass Bonhoeffer zum Dichter wurde, war für einen wissenschaftlichen Theologen alles andere als selbstverständlich. Es hängt mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer zusammen. Mit ihr, einer 18-jährigen jungen Frau, hat sich der 37-jährige Bonhoeffer erst unmittelbar vor seiner Verhaftung verlobt. Es war Maria von Wedemeyer, die Bonhoeffer im Gefängnis erkennen half, dass er bis dahin mehr oder weniger als „Kopffüßler“ gelebt hat. Die Liebe zu ihr eröffnete ihm den Weg zu einem ganzheitlichen Leben. Er begriff: Jesus Christus hat das ganze Leben geschaffen – und nimmt es als Herr auch ganz für sich in Anspruch. Damals schrieb Bonhoeffer: „Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wildgewordene religiöse Phantasie, die an dem, was Gott gibt, nie genug haben kann, dieses Glück wurmstichig werden lassen. … Es ist Übermut, alles auf einmal haben zu wollen, das Glück der Ehe und das Kreuz und das himmlische Jerusalem.“

Nach der ersten Sprecherlaubnis der Verlobten im Gefängnis verfasste Bonhoeffer sein erstes Gedicht. Es ist überschrieben mit „Vergangenheit“. Dieses Gedicht ist sein persönlichstes geworden: ein Liebesgedicht, allerdings – wie kann es bei einem Vollbluttheologen anders sein – ein Liebesgedicht in Form eines Psalms. Dass Bonhoeffer Maria im Gefängnis wider Erwarten wiedersah, muss ihn ungeheuer erschüttert haben.

Nun lassen Sie uns zunächst die erste Strophe singen.

3. Das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“

Das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ hat Bonhoeffer in den Tagen vor dem 19.12.1944 an einem Ort des Grauens geschrieben: im Kellergefängnis der Gestapo-Zentrale in der damaligen Berliner Prinz-Albrecht-Straße, mitten im Regierungsviertel. Man kann diesen Ort heute besichtigen: Die Gedenkstätte trägt den Namen „Topographie des Terrors“. Dadurch dass nur noch die Kellerräume erhalten geblieben sind, ist die Atmosphäre des Ortes besonders bedrückend. Bonhoeffer war hier zusammen mit anderen Nazigegnern fürchterlichen Verhören ausgesetzt; viele seiner Mitgefangenen hatten Folterungen zu erdulden. Während Berlin täglich bombardiert wurde, funktionierte das nationalsozialistische Terrorregime ohne Unterbrechung weiter. Bonhoeffer musste in diesen Monaten in der Prinz-Albrecht-Straße täglich mit seiner Hinrichtung rechnen.

Auf diesem Hintergrund gelesen, fängt das Gedicht erst richtig zu sprechen an. Das ist wohl auch der Grund, weshalb es Menschen aus allen Weltgegenden das Herz anrührt. Das Gedicht stellt Bonhoeffers geistliches Vermächtnis dar: Der dem Tode Geweihte hat es seinem letzten erhaltenen Brief an die Verlobte beigelegt. Im Angesicht des Todes wird schonungslos deutlich, was die letzten Beweggründe eines Menschen sind. Das gilt auch für Bonhoeffer und sein letztes Gedicht.

Lassen Sie uns nun die zweite Strophe singen.

2. Strophe

Gerade haben wir gesungen: „Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.“ Ja, aufgeschreckt ist unsere Seele oft – und verzagt. Da sind die Ängste vor dem, was kommt. Sie halten uns fest im Griff und drohen, uns die Luft zum Atmen zu nehmen. Wir fühlen uns überfordert, getrieben von den vielen Ansprüchen: von uns selbst, aber auch von den Ansprüchen anderer an uns. Da wird der Glaube unter Hand zu einem zusätzlichen Anspruch. Gott wird jemand, der uns einzwängt mit seinen Ansprüchen, mit seinen Geboten.

Bonhoeffer entlarvt diese Vorstellung als ein großes Missverständnis: Gott hat uns geschaffen, damit wir das Heil empfangen. Darin liegt unsere Bestimmung, ja unser Wesen: Dass wir heil werden an Leib, Seele und Geist. Das ist Evangelium, das ist gute Botschaft: Wir dürfen die übertriebenen Ansprüche loslassen, die andere und wir selbst an uns haben! Wir können heilsam bei uns selbst einkehren.

Lassen Sie uns nun die dritte Strophe singen.

3. Strophe

Ich bin als Gymnasiast zusammen mit einer Reihe von Mitschülern im Religionsunterricht Christ geworden. Kurz darauf lernte ich das Bonhoeffersche Gedicht kennen. Im Schülerbibelkreis sangen wir es mit Begeisterung. Bonhoeffer selbst war mir zu diesem Zeitpunkt ganz unbekannt. Ich weiß, dass mich die dritte Strophe besonders berührte und nachdenklich machte: „Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand.“ Damals versuchte ich, Problemen und Schwierigkeiten, so gut ich es vermochte, aus dem Weg zu gehen. Meine Lebensmaxime war – wahrscheinlich wie die vieler anderer Schüler auch –, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Aus Bonhoeffers Worten klang eine andere Lebenseinstellung heraus, die mich verwirrte.

Im Dezember 1944 musste er damit rechnen, das Naziregime nicht zu überleben. Und genau zu diesem Zeitpunkt schrieb er „Von guten Mächten still und treu umgeben“. In den beiden zurückliegenden Gefängnisjahren hatte Bonhoeffer unter schweren inneren Kämpfen gelernt, darin Gottes Führung in seinem Leben zu sehen. Weil er wusste, dass auch der bittere Kelch des Leids aus Gottes guter und geliebter Hand kam, konnte er ihn schließlich dankbar und ohne Zittern nehmen. Ich kennen eine Reihe von Christen, die diese Strophe nicht mitsingen. Sie können nicht glauben, dass Gott einem Menschen Leiden schickt. Der Apostel Paulus und viele andere Christen nach ihm waren jedoch überzeugt, dass Leiden sogar eine Auszeichnung durch Gott darstellt. Es macht uns nämlich dem Schicksal Jesu Christi ähnlich. Auch Martin Luther war überzeugt, dass Gott sich durch die dunklen Fenster des Glaubens sehen lässt. Er meinte: Wenn es uns gut geht, kostet es nichts, an Gott zu glauben. Das, was wir im Glück als Glaube bezeichnen, ist aber nicht mehr als ein frommes Gefühl. Der Glaube beginnt erst in dem Moment interessant zu werden, wo wir in Nöte und Schwierigkeiten geraten. Dann zeigt sich, ob wir unser Leben wirklich Gott anvertraut haben und ob wir ihn um seiner selbst willen lieben oder ob wir ihn als Erfüllungsgehilfen unserer eigenen Wünsche missverstehen.

Lassen Sie uns nun die vierte und die fünfte Strophe singen.

4. Strophe

Bonhoeffer hat im Gefängnis immer wieder über seine Vergangenheit nachgedacht. Herausgenommen aus einem turbulenten und fordernden Leben, getrennt von seiner Familie und seiner Verlobten, trat sein vergangenes Leben vor sein inneres Auge: mit allem Schönen, aber auch mit allem Schweren und allem Versagen. Im Nachdenken darüber kam Bonhoeffer zu der Überzeugung, dass wir uns mit unserer Vergangenheit allein durch Dank und durch Reue versöhnen können.

Viele von uns machen von Zeit zu Zeit die Erfahrung, dass längst Vergangenes wie ein Alp auf unserer Seele lastet und uns das Leben vergällt und das Glück und den Frieden zu rauben droht. Wir stellen fest, dass es Dinge in unserem Leben gibt, für die wir nicht danken können. Tatsächlich ist über manche Dinge Reue nötig, vielleicht sogar eine Beichte, um versöhnt weiterleben zu können.

Bonhoeffer geht im Gedicht noch einen Schritt weiter: Das Gedenken an die eigene Vergangenheit führt erst dann endgültig zum inneren Frieden, wenn wir bereit sind, unser Leben ganz in den Dienst für Gott zu stellen: „Doch willst du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann wolln wir des Vergangenen gedenken und dann gehört dir unser Leben ganz.“

Lassen Sie uns nun die sechste Strophe singen.

6. Strophe

Jeder, der bereits einmal ein Gefängnis besucht hat, weiß, dass es darin auch nachts nicht still wird. Da knallen Türen. Immer wieder wird die Stille von Klopfzeichen durchbrochen und von Schreien der Gefangenen. In Strophe 6 entwirft Bonhoeffer jedoch ein ganz anderes Bild: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, / so laß uns hören jenen vollen Klang / der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, / all Deiner Kinder hohen Lobgesang.“ Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Bonhoeffer hat im Gefängnis ein mystisches Gespür für die unsichtbare Welt Gottes und des Himmels entwickelt. Die Grenzen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt – zwischen Erde und Himmel – werden für ihn ähnlich wie für den Propheten Jesaja durchlässig (Jes 6). Bonhoeffer kann die Welt hinter der Welt wahrnehmen. Er erkennt, dass unsere sichtbare, irdische Welt nicht alles ist. Sie ist umgeben und durchdrungen, sie wird getragen von der Welt des Himmels. Ausgerechnet im Gestapogefängnis bekommt Bonhoeffer einen Vorgeschmack des Himmels.

7. Strophe

Am bekanntesten ist die letzte Strophe aus Bonhoeffers Gedicht geworden.

Ich verbinde mit dieser Strophe eine persönliche Erfahrung. Eine nahe Verwandte hat sich vor einigen Jahren mit Verdacht auf Krebs einer Untersuchung unterziehen müssen. Einige Tage später saß sie voller Unruhe im Wartezimmer des Arztes, um den Befund entgegenzunehmen. Dabei fiel ihr Blick auf einen Spruch an der Wand. Die Worte trösteten sie in den bangen Minuten des Wartens auf wunderbare Weise.

Als sie mir später von dieser Erfahrung erzählte, fragte sie mich, ob ich ein Gedicht kennen würde, in dem „Von guten Mächten geborgen“ vorkäme, und wer der Dichter dieses herrlichen Gedichtes sei. Ich war froh, ihr weiterhelfen zu können.

Die Erfahrung meiner Verwandten haben unzählige Menschen auf der ganzen Welt gemacht! Es gibt wohl kein geistliches Gedicht aus dem 20. Jahrhundert, das Christen und Nichtchristen unmittelbarer anspricht. Dabei ist es vor allem die Aussage von den guten Mächten, die wunderbar trösten, die Menschen innerlich berührt. Bonhoeffer hat im Brief an seine Verlobte geschrieben, was er unter den „guten Mächten“ verstand: „Du, die Eltern, ihr alle, die Freunde und meine Studenten an der Front, sie alle sind für mich stets gegenwärtig. Deine Gebete, gute Gedanken, Worte aus der Bibel, längst vergangene Gespräche, Musikstücke und Bücher – das alles gewinnt Leben und Realität wie nie zuvor. Es ist eine große unsichtbare Welt, in der man lebt. An ihrer Realität gibt es keinen Zweifel.“

Gottes Nähe zeigt sich für Bonhoeffer also nicht unmittelbar, sondern mittelbar, in geschaffenen Dingen: in nahen Menschen, in deren Gebeten, in guten Gedanken, Bibelworten, Gesprächen, Musikstücken und Büchern. Sie alle sind sichtbare Zeichen, die Gottes Güte für ihn anschaulich, ja greifbar machen. Dabei rechnet Bonhoeffer genauso mit dem Geleit der Engel, wie die Fortsetzung des Briefes zeigt: „Wenn es in dem alten Kirchenlied von den Engeln heißt: zwei, um mich zu decken; zwei, um mich zu wecken – so ist diese Bewahrung durch gute unsichtbare Mächte am Morgen und in der Nacht etwas, das Erwachsene heute genau so brauchen wie die Kinder.“

Lassen Sie uns zum Abschluss noch die siebte Strophe singen.

Und der Friede…

 

Prof. Dr. Peter Zimmerling, Leipzig

Predigt zum Altjahresabend

Eine Predigt von Prof. Dr. Peter Zimmerling

 

Zionskirche Kanzel (Foto: Adalbert Halt)

Peter Zimmerling

gehalten in Leipzig 2022/23

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