Es waren keine Hirten mehr da

Der Blick des Heilands fällt erbarmend auf sein Volk, auf
Gottes Volk (Matthäus 9, 35 f). Es konnte ihm nicht genug
sein, daß einige wenige seinen Ruf gehört hatten und ihm
nachfolgten. Er konnte nicht daran denken, sich mit seinen
Jüngern aristokratisch abzusondern und in der Weise großer
Religionsstifter ihnen in der Abgeschiedenheit von der Menge
des Volkes die Lehren höherer Erkenntnis und vollkommener
Lebensführung zu übermitteln. Jesus war gekommen, er arbeitete
und er litt um seines ganzen Volkes willen. Und die Jünger,
die ihn für sich allein haben wollen, die ihm die Belästigung
durch die Kinder, die man zu ihm bringt, und durch manchen
armen Bettler am Wegrand fernhalten wollen (Markus 10, 48),
müssen erkennen, daß Jesus sich seinen Dienst durch sie nicht
einschränken läßt. Sein Evangelium vom Reiche Gottes und
seine Heilandskraft gehörte den Armen und Kranken, wo er
sie in seinem Volke fand. Der Anblick der Volksmenge, der in
seinen Jüngern vielleicht Widerwillen, Zorn oder Verachtung
erregte, erfüllte Jesu Herz mit tiefem Erbarmen und Jammer.
Kein Vorwurf, keine Anklage! Gottes liebes Volk lag mißhandelt
am Boden und die Schuld daran traf die, die an ihm den
Dienst Gottes versehen sollten. Nicht die Römer hatten das
angerichtet, sondern der Mißbrauch des Wortes Gottes durch
die berufenen Diener am Wort. Es waren keine Hirten mehr da!

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Nachfolge
, DBW Band 4, Seite 193 f

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