Das Bild der Menschheit

Es ist ein Geheimnis, für das es keine Erklärung gibt, daß nur
ein Teil der Menschheit die Gestalt ihres Erlösers erkennt.
Das Verlangen des Menschgewordenen in allen Menschen
Gestalt zu gewinnen, bleibt bis zur Stunde ungestillt. Er, der
die Gestalt des Menschen trug, kann nur in einer kleinen Schar
Gestalt gewinnen: das ist seine Kirche. »Gestaltung« heißt
daher in erster Linie Gestaltgewinnen Jesu Christi in seiner
Kirche. Es ist die Gestalt Jesu Christi selbst, die hier Gestalt
gewinnt. In tiefer und klarer Bezeichnung der Sache selbst
nennt das Neue Testament die Kirche den Leib Christi. Der
Leib ist die Gestalt. So ist die Kirche nicht eine Religionsgemeinschaft
von Christusverehrern, sondern der unter Menschen
gestaltgewordene Christus. Leib Christi aber darf die Kirche
heißen, weil im Leibe Jesu Christi wirklich der Mensch und also
alle Menschen angenommen sind. Die Kirche trägt nun die
Gestalt, die in Wahrheit der ganzen Menschheit gilt. Das Bild,
nachdem sie gestaltet wird, ist das Bild der Menschheit. Was
sich in ihr ereignet, geschieht vorbildlich und stellvertretend
für alle Menschen. Es kann aber nicht deutlich genug gesagt
werden, daß auch die Kirche nicht eine eigne, selbständige
Gestalt neben der Gestalt Jesu Christi ist. Die Kirche ist nichts
als das Stück der Menschheit, in dem Christus Gestalt wirklich
gewonnen hat.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 83 f

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