Wenn es also kein denkbares menschliches Verhalten
gibt, das als solches unzweideutig als »Liebe« angesprochen
werden könnte, wenn »Liebe« jenseits aller Entzweiung
ist, in der der Mensch lebt, wenn aber alles, was Menschen als
Liebe verstehen und üben können, immer nur als menschliches
Verhalten innerhalb der gegebenen Entzweiung denkbar ist,
dann bleibt hier ein Rätsel, eine offene Frage, was nun für die
Bibel »Liebe« noch sein könne. Die Bibel versagt uns die Antwort
nicht. Sie ist uns auch bekannt genug, nur das wir sie immer
wieder mißdeuten. Sie heißt: Gott ist Liebe (1 Johannes 4, 16).
Dieser Satz ist zunächst um der Klarheit willen mit der Betonung
des Wortes Gott zu lesen, während wir uns daran gewöhnt
haben, das Wort Liebe zu betonen. Gott ist Liebe, das heißt
nicht ein menschliches Verhalten, eine Gesinnung, eine Tat,
sondern Gott selbst ist Liebe. Was Liebe ist, weiß nur, wer Gott
kennt, nicht aber umgekehrt weiß man erst – und zwar von
Natur – , was Liebe ist und daher dann auch, was Gott ist. Gott
aber kennt niemand, es sei denn daß Gott sich ihm offenbare
(1 Johannes 4, 7 f). … Nicht in uns, sondern in Gott hat die Liebe
ihren Ursprung, nicht ein Verhalten des Menschen sondern ein
Verhalten Gottes ist Liebe (1 Johannes 4, 10).
Quelle:
Ethik, DBW Band 6,
Seite 337