Das moralische Gedächtnis

Etwas, was bei mir selbst und bei anderen immer wieder rätselhaft
ist, ist die Vergeßlichkeit in bezug auf die Eindrücke
während einer Bombennacht. Schon wenige Minuten danach
ist fast alles von dem, was man vorher gedacht hat, wie weggeblasen.
Bei Luther genügte ein Blitzschlag, um seinem ganzen
Leben auf Jahre hinaus eine Wendung zu geben. Wo ist dieses
»Gedächtnis« heute? Ist nicht der Verlust dieses »moralischen
Gedächtnis« – scheußliches Wort! – der Grund für den Ruin
aller Bindungen, der Liebe, der Ehe, der Freundschaft, der
Treue? Nichts haftet, nichts sitzt fest. Alles ist kurzfristig, kurzatmig.
Aber die Güter der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der
Schönheit, alle großen Leistungen überhaupt brauchen Zeit,
Beständigkeit, »Gedächtnis«, oder sie degenerieren. Wer nicht
eine Vergangenheit zu verantworten und eine Zukunft zu gestalten
gesonnen ist, der ist »vergeßlich«, und ich weiß nicht,
wo man einen solchen packen, stellen, zur Besinnung bringen
kann. Denn auch jedes Wort, wenn es auch im Augenblick
beeindruckt, verfällt der Vergeßlichkeit. Was ist da zu tun? ein
großes Problem der christlichen Seelsorge.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Widerstand und Ergebung
, DBW Band 8, Seite 310 f

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