Der Ruf des Gewissens

Die Verantwortung für den Nächsten hat ihre Grenze in der
Unantastbarkeit des Gewissensrufes. Eine Verantwortung,
die zu einem Handeln wider das Gewissen zwingt, würde sich
selbst verurteilen. Es kann niemals geraten sein wider das eigene
Gewissen zu handeln. Darin ist sich alle christliche Ethik
einig. Aber was bedeutet das? Das Gewissen ist der aus einer
Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft
sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur
Einheit mit sich selbst. Es erscheint als Anklage gegen die verlorene
Einheit und als Warnung vor dem sich selbst Verlieren.
Es ist primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes
Sein gerichtet. Es protestiert gegen ein Tun, das dieses
Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet. In dieser formalen
Bestimmung bleibt das Gewissen eine Instanz, gegen die zu
handeln höchst widerraten ist; die Mißachtung des Gewissensrufes
muß eine Zerstörung des eigenen Seins, ein Zerfallen der
menschlichen Existenz zur Folge haben. Das Handeln wider das
Gewissen liegt in der Richtung des selbstmörderischen Handelns
gegen das eigene Leben. Ein verantwortliches Handeln,
das dem Gewissen, in diesem formalen Sinn, Gewalt antun
wollte, wäre in der Tat verwerflich.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 276 f

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