Ein unansehnliches Reis

Er soll Nazarenus heißen« (Matthäus 2, 23). Diese Weissagung
scheint schwer verständlich, zumal wir sie in dieser Form
nirgends finden. Aber wir müssen lernen, genau auf den biblischen
Text zu achten. Es heißt hier nicht, daß ein einzelner
Prophet, sondern daß die Propheten diese Weissagung enthalten.
Dabei ist gewiß daran gedacht, daß immer wieder im Alten
Testament verheißen war, daß der zukünftige König in Niedrigkeit
und Unansehnlichkeit erscheinen werde. Freilich steht
hier noch nichts von Nazareth. Diese Beziehung findet der
Evangelist aber an jener bekannten Stelle des Jesaja, in der es
heißt, daß aus der Wurzel Isais ein Zweig, ein Schössling, ein
unansehnliches Reis entspringen werde und daß dieser schwache,
geringe , aus dem Wurzelstumpf ausschlagende Zweig der
Messias Israels sein werde (Jesaja 11, 1-9). Das hebräische Wort
für Zweig aber heißt »nezer«, dies aber sind gerade die Stammlaute
für den Ortsnamen Nazareth. So tief verborgen also findet
das Evangelium die Verheißung im Alten Testament, daß Jesus
arm, verachtet und gering sein werde. In dem für Joseph und
alle Welt so schwer begreiflichen Weg nach dem armseligen
Nazareth erfüllt sich also abermals Gottes Weg mit dem Heiland
aller Welt. In tiefster Armut Verborgenheit und Niedrigkeit
soll er leben, das Leben der Unangesehenen, Verachteten
soll er teilen, damit er das Elend aller Menschen tragen und ihr
Heiland werden könne.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937-1940
, DBW Band 15, Seite 497

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