Das Gebot der Liebe ist nicht spezifisch christlich, sondern
zur Zeit Jesu schon allgemein anerkannt und verbreitet.
Zunächst sollte es auffallen, daß es in den synoptischen Evangelien
nur äußerst selten vorkommt. Bekannt ist die Stelle wo
Jesus nach dem höchsten Gebot gefragt wird und die Doppelantwort
gibt: »Du sollst Gott deinen Herrn lieben … Das andere
aber ist dem gleich: Liebe deinen nächsten als dich selbst.«
(Matthäus 22, 37-39) Ferner die Worte über die Feindesliebe: »Liebet
eure Feinde …« (Matthäus 5, 44-46). Wäre für Jesus wirklich
die Verkündigung dieses Gebotes im Mittelpunkt seiner ganzen
Predigt gestanden, so hätte er immer von neuem gerade hier
eingesetzt. Dem ist aber nicht so. Das geht auch bis zur völligen
Klarheit hervor aus einer Gegenüberstellung von Worten Jesu
mit Worten jüdischer Rabbis und heidnischer Philosophen, die
sich oft bis in die Formulierung hinein gleichen. … Was bleibt
aber nun von einer christlichen Ethik überhaupt noch übrig?
Hat uns die Bergpredigt dann wirklich gar nichts Neues zu
sagen? »Neues« im Sinne einer neuen Forderung nicht, dafür
aber etwas ganz anderes. Der Sinn der gesamten ethischen
Gebote Jesu ist vielmehr der, dem Menschen zu sagen: Du
stehst vor dem Angesicht Gottes, Gottes Gnade waltet über
dir, du stehst aber zum Andern in der Welt, mußt handeln und
wirken, so sei bei deinem Handeln eingedenk, daß du unter
Gottes Augen handelst, daß er seinen Willen hat, den er getan
haben will.
Quelle:
Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10,
Seite 328 f