Das Ärgernis des frommen Menschen

Der erniedrigte Gott-Mensch ist das Ärgernis des frommen
Menschen und des Menschen überhaupt. Die Ärgerlichkeit
ist seine geschichtliche Undeutlichkeit. Das Unbegreiflichste
für den Frommen ist der Anspruch, den dieser Mensch
erhebt, er sei nicht nur ein Frommer, sondern Gottes Sohn.
Daher seine Vollmacht »ich aber sage Euch« (Matthäus 5, 22) und
»Deine Sünden sind Dir vergeben« (Matthäus 9, 2). Wäre Jesu
Natur vergöttlicht gewesen, so hätte man sich diesen Anspruch
gefallen lassen. Hätte er Zeichen getan, wie man sie forderte,
so hätte man ihm geglaubt. Aber dort, wo es darauf ankommt,
zieht er sich zurück. Und das schafft das Ärgernis. Aber an dieser
Tatsache hängt alles. Hätte er die an ihr gerichtete Christusfrage
durch ein Wunder beantwortet, so gelte der Satz nicht
mehr, daß er Mensch geworden ist wie wir, denn dann wäre an
dem entscheidenden Punkt die Ausnahme gewesen. … Hätte
Christus sich im Wunder dokumentiert, so würden wir zwar
glauben, aber Christus wäre dann nicht unser Heil, denn es
wäre dann nicht der Glaube an den menschgewordenen Gott,
sondern ein Anerkennen eines angeblich übernatürlichen
Faktums. Das ist aber kein Glaube. … Erst dort, wo ich aber
auf sichtbare Bezeugung verzichte, glaube ich an Gott.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Berlin 1932-1933
, DBW Band 12, Seite 345 f

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