Schuldübernahme

Weil es Jesus nicht um die Proklamation und Verwirklichung
neuer ethischer Ideale, also auch nicht um sein
eigenes Gutsein (Matthäus 19, 17), sondern allein um die Liebe
zum wirklichen Menschen geht, darum kann er in die Gemeinschaft
ihrer Schuld eintreten, sich mit ihrer Schuld belasten
lassen. Jesus will nicht auf kosten der Menschen als der einzig
Vollkommene gelten, will nicht als der einzig Schuldlose auf
die unter ihrer Schuld zugrundegehende Menschheit herabsehen,
will nicht über den Trümmern einer an ihrer Schuld
gescheiterten Menschheit irgendeine Idee eines neuen Menschen
triumphieren lassen. Er will sich nicht von der Schuld
freisprechen, unter der die Menschen sterben. Eine Liebe, die
den Menschen in seiner Schuld allein ließe, hätte nicht den
wirklichen Menschen zum Gegenstand. Als im geschichtlichen
Dasein des Menschen verantwortlich Handelnder wird Jesus
schuldig. Es ist allein seine Liebe, die ihn schuldig werden läßt.
Aus seiner selbstlosen Liebe, aus seiner Sündlosigkeit heraus
tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein, nimmt sie auf sich.
Sündlosigkeit und Schuldtragen gehören in ihm unlösbar zusammen.
Als der Sündlose nimmt Jesus die Schuld auf sich,
und unter der Last dieser Schuld erweist er sich als der Sündlose.
In diesem sündlos-schuldigen Jesus Christus hat nun jedes
stellvertretend verantwortliche Handeln seinen Ursprung.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Ethik
, DBW Band 6, Seite 275 f

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