Schein und Wesen der Wahrheit

Um zu sagen, wie eine Sache wirklich ist, d. h. um wahrheitsgemäß
zu sprechen, muß sich der Blick und das
Denken darauf richten, wie das Wirkliche in Gott und durch
Gott und zu Gott ist.
Jedes Wort, das ich überhaupt rede, steht unter der Bestimmung,
wahr zu sein; ganz abgesehen von der Wahrheitsgemäßheit
seines Inhaltes, ist schon das in ihm ausgedrückte Verhältnis
von mir zu einem anderen Menschen wahr oder unwahr. Ich
kann schmeicheln, ich kann mich überheben, oder ich kann
heucheln, ohne eine materielle Unwahrheit auszusprechen und
mein Wort ist doch unwahr, weil ich die Wirklichkeit des Verhältnisses
von Mann und Frau oder Vorgesetztem und Untergebenem
etc. zerstöre und zersetze. Das einzelne Wort ist immer
Teil eines Wirklichkeitsganzen, das im Wort zum Ausdruck
kommen will. Je nachdem zu wem ich spreche, von wem ich
gefragt bin, worüber ich spreche, muß mein Wort, wenn es
wahrheitsgemäß sein will, ein verschiedenes sein. Das wahrheitsgemäße
Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern
ist so lebendig wie das Leben selbst. Wo es sich vom Leben
und der Beziehung zum konkreten anderen Menschen löst, wo
die »Wahrheit gesagt wird« ohne Beachtung dessen, zu dem ich
sie sage, dort hat sie nur den Schein, aber nicht das Wesen der
Wahrheit.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle:
Konspiration und Haft 1940-1945
, DBW Band 16, Seite 622 f

Gedanken zum 17. September

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